‚gayropa‘-in-belarus‚Gayropa‘ in Belarus
gerechter-krieg-gegen-unglaeubigeGerechter Krieg gegen Ungläubige
„russlands-geschichte-wird-umgeschrieben“

„Russlands Geschichte wird umgeschrieben“

Published On: 20. März 2023 17:41

Ich habe zwei Missionen, zwei Berufe. Der eine hat mit Geschichte zu tun. Ich bin Historiker, meiner Ausbildung, meiner Denkweise und meinen Interessen nach. Ich arbeite seit Langem über die Geschichte der politischen Repressionen in der Sowjetunion. Das war auch das Thema meiner Dissertation: „Das Spezkontingent Ende der 1920er bis Anfang der 1950er Jahre in der Region Perm“. Zuletzt habe ich über die sogenannte Entkulakisierung geforscht, über die Sondersiedlungen zu Anfang der 30er-Jahre. In jüngster Zeit galt mein Interesse auch der neueren, postsowjetischen Geschichte Russlands. Insbesondere allem, was mit der sogenannten Erinnerungsgeschichte zu tun hat.

Ich habe 1985 mein Studium an der Historischen Fakultät der Staatlichen Universität Perm abgeschlossen. Ich habe von 1985 bis September 2022 an der Pädagogischen Universität geforscht und gelehrt, zuerst als Assistent, zuletzt als Professor für Geschichte.

Mein anderes Leben, das für mich nicht weniger wichtig ist, vielleicht sogar wichtiger, ist die Arbeit in aufklärerischen nichtstaatlichen Organisationen (NGO). Seit den 90er-Jahren habe ich mit „Memorial“ zusammengearbeitet, seit dieser Zeit bin ich Mitglied des Vorstands der regionalen „Memorial“ Perm.

Zuerst habe ich sehr lange über die Geschichte der Repressionen geforscht und an einem Buch zum Gedenken der Opfer politischer Verfolgung in der Region Perm gearbeitet. Anschließend, Ende der 90er-, Anfang der 2000er-Jahre, befassten wir uns, anfangs unter der Schirmherrschaft von „Memorial“, danach in Zusammenarbeit mit einer zu diesem Zweck gegründeten Organisation, mit Aufklärungsarbeit im Bereich der Menschenrechte und staatsbürgerlicher Bildung.

Ich fühlte die Gefahr, verhaftet zu werden

Ich verließ Russland, weil ich spürte, dass mir wegen meiner Arbeit Repressionen drohen. Vor allem nach Verabschiedung des neuen Gesetzespakets Anfang Juli wurde das sehr klar.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Erstens besteht jetzt die Gefahr, dass ich wegen der Verbreitung sogenannter Falschinformationen und Diskriminierung der russischen Armee verklagt werde. Das wäre für sie ganz einfach, weil ich mit meinen Studenten aus den verschiedenen Jahrgängen diskutiere, unter anderem leite ich eine Lehrveranstaltung über neue russische Geschichte von 2017 bis heute. Wir haben auch über den Krieg gesprochen, über verschiedene damit zusammenhängende Faktoren. Wenn man die weitere Entwicklung in Betracht sieht, wird es mit der Zeit immer wahrscheinlicher, dass alles dies den Rechtsschutzorganen angezeigt wird. Und die Strafen nach diesen Gesetzen sind sehr, sehr hoch.

Eine weitere Gefahr ist die faktische Kriminalisierung der Kontakte mit Ausländern. Wie es sich gegenwärtig zeigt, kann theoretisch jeder Mensch auf Grund völlig vager geheimer Angaben beschuldigt werden, in Kontakt zu Ausländern zu stehen, die für Spionagedienste tätig sind. Und niemand kann irgendwie beweisen, dass diese Ausländer nichts mit Spionage zu tun haben.

Keine Gerechtigkeit von Gerichten zu erwarten

Wir sehen gerade den Fall von Iwan Safronow [im September 2022 zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt wegen Hochverrats, Red.], der deutlich macht, wie man eine Situation zurechtdrehen kann. Zudem zeigt meine Erfahrung in Gerichtsverhandlungen mit diversen staatlichen Institutionen, dass wir von unseren Gerichten keinerlei Gerechtigkeit zu erwarten haben, wenn es um die Auseinandersetzung mit staatlichen Institutionen geht.

Bisher wurde ich nicht unmittelbar bedroht, aber man weiß nicht, was dort schon in Vorbereitung ist. Ob man morgen bei mir an die Tür klopft oder wann. Vielleicht liegen die Akten da schon bereit.

Ich versuchte, in Russland zu bleiben und zu arbeiten, gegen den wachsenden Autoritarismus Widerstand zu leisten, solange es noch möglich war, und solange ich noch glaubte, dass das Risiko nicht größer ist als der Nutzen dessen, was ich tun kann. Nach Verabschiedung dieses Gesetzespakets bin ich aber zu der Überzeugung gekommen, dass die Risiken größer sind als der mögliche Nutzen.

Es ist so, dass ich unter den gegebenen Einschränkungen weniger tun kann. Andererseits kann man mich jetzt leichter für Vergangenes zur Verantwortung ziehen.

Etwa eine Woche nachdem der Präsident diese Gesetze unterzeichnet hatte, stand für mich eine geplante Reise nach Genf an, es ging darum, die Arbeit bestimmter Institutionen der Uno im Bereich der Menschenrechtsproblematik kennenzulernen. Ich fuhr hin, aber nicht mehr zurück. Mein Rückweg führte bis nach Istanbul, aber den Flug über die letzte Wegstrecke bis nach Russland trat ich nicht an.

Ich begab mich vielmehr zunächst nach Georgien und blieb dort etwa einen Monat lang. Ich stellte einen Antrag auf ein Stipendium, das ich jetzt erhalten habe, und ich kümmerte mich um die Unterlagen für ein humanitäres Visum.

Jetzt bin ich in Berlin. Mitte August habe ich das Stipendium bekommen, und das Geld reicht mir zum Leben, vor allem für die erste Zeit. Jetzt habe ich den Antrag auf Erteilung eines humanitären Visums eingereicht und warte auf die Entscheidung.

Über Geschichtsunterricht an russischen Schulen

Es hängt natürlich ganz von den Lehrern ab. Die Lehrer, mit denen ich arbeitete, interessieren sich wenigstens für die Problematik, die mit der staatsbürgerlichen Bildung zusammenhängt, und der größte Teil dieser Lehrer kann den Unterricht frei gestalten. Sie können ihre Sichtweise vertreten, ohne sich an die von oben vorgegebenen Lehrbücher klammern zu müssen. Das sind Menschen, die freiwillig zu den Lehrveranstaltungen kamen, die unser Unterrichtszentrum anbot. Wir können sie nicht zwingen, zu uns zu kommen, weil wir keine staatliche Organisation sind. Aber ich kann sagen, dass das Interesse nachlässt, es kommen weniger Lehrer zu den Seminaren, im Vergleich zum Anfang der 2000er-Jahre. Damals war das ein Trend.

Über den Fall Juri Dmitrijew

Ich glaube, viele wissen nichts über den Fall Juri Dmitrijew [russischer Historiker und Mitarbeiter von Memorial, der unter fadenscheinigen Begründungen zu inzwischen 15 Jahren Haft verurteilt], weil die Informationen darüber nur sehr spärlich fließen. Viele Lehrer sind einfach mit ihrer Arbeit überlastet. Sie haben in der Regel anderthalb oder zwei Vollzeitstellen, und neben ihrem normalen Alltag müssen sie sich auch noch auf den Unterricht vorbereiten. Deshalb kommen sie nicht dazu, noch zusätzliche Nachrichten zu rezipieren, sie köcheln in ihrem eigenen Saft und halten sich an das, was sie schon kennen.

Ein Großteil der Lehrer nutzt außer den Lehrbüchern die didaktischen Materialien, die ihnen angeboten werden, und die liegen auf der Linie des politischen Erinnerns, die etwa seit 2010 unsere Regierung konstruiert. Das gab es früher nicht. Das, was jetzt in diesen Lehrmaterialien über den Krieg mit der Ukraine steht, ist jenseits von Gut und Böse. Viele Lehrer benutzen weitgehend die offiziellen Materialien, nur ein kleiner Teil nimmt alternative Sichtweisen auf die Geschichte Russlands an.

In den Lehrbüchern wird Putin gepriesen

Wenn man zum Beispiel die vom Unterrichtsministerium genehmigten Geschichtslehrbücher aus der zweiten Hälfte der 80er-Jahre nimmt – was bei uns Geschichte der Perestroika heißt –, die unterscheiden sich, vielleicht kommt das Material aus unterschiedlichen Quellen. Zurzeit gibt es, wenn ich mich nicht irre, fünf von den Ministerien offiziell genehmigte Geschichtslehrbücher für die Schulen. Das populärste davon, für das Anatoli Tokunow, der Rektor des MGIMO (Staatliches Moskauer Institut für Internationale Beziehungen), als Herausgeber zeichnet, sagt das, was offiziell die Propaganda vorgibt, was Putin sagt, nämlich dass der Zusammenbruch der Sowjetunion eine geopolitische Katastrophe war.

Dementsprechend erscheint dort die Perestroika als Beginn eines großen Albtraums. Aber es gibt auch Lehrbücher, in denen steht, dass dies eine für die Sowjetunion unvermeidliche Reformpolitik war, die zur damaligen Zeit überfällig war.

Die Geschichte wird umgeschrieben

Was die Perestroika angeht, sogar noch die 90er-Jahre, da können wir durchaus abweichende Konzepte sehen, sie können sich sogar vom offiziellen propagandistischen Diskurs unterscheiden. Sobald wir in die Putinsche Epoche kommen, ist es damit vorbei, da ist Schluss mit der Meinungsvielfalt, alles läuft in unterschiedlichem Grad unter dem Stigma der 90er, Jelzins, und umgekehrt, der Überhöhung Putins. Die Generallinie lautet, früher waren die schlimmen 90er, dann kam Putin auf einem weißen Pferd angeritten und führte Russland ins Glück. Die Putinsche Ära erscheint mit unterschiedlichem Grad der Unterwürfigkeit in allen Lehrbüchern gleich, in manchen ist es einfach nur schauderhaft. In Russland wird jetzt die Geschichte umgeschrieben.

Als ich noch unterrichtete, nannte ich den Krieg Krieg. Aber das habe ich getan, für meine Kollegen kann ich da nicht sprechen. Wenn man die Geschichte wissenschaftlich sieht, dann sollte es doch so sein, dass die Geschichte nicht abhängt von den politischen Neigungen eines Wissenschaftlers.

Anders ist es mit der Erinnerungspolitik, sie nimmt die Geschichte nicht als Wissenschaft, sondern bedient sich ihrer zur Legitimierung beliebiger geopolitischer Ideen. Ein typisches Beispiel dafür ist die skandalöse Dissertation des ehemaligen Kulturministers Medinski. Er behauptet darin ganz direkt, es sei die zentrale Aufgabe der Geschichte, den Interessen Russlands zu dienen.

Wenn das so ist, dann ist es keine Wissenschaft mehr, sondern Erinnerungspolitik, die auf eine besondere Art konstruiert wird. Und die Offiziellen wollen zusammen mit der Propaganda zeigen, dass es überhaupt keine Geschichtswissenschaft gibt und man das als Geschichte anerkennen muss, was sie sagen.

Das ist sehr gefährlich. Ich fürchte, dass dieses Feld von den Politikern okkupiert wird, während die echten Historiker verdrängt werden, wozu auch gehört, dass es zu einer unvermittelt politisch motivierten Verfolgung derer kommen wird, die ihren Standpunkt vertreten, und zwar auf Fakten gegründet.

Verboten: Hitlervergleich mit Stalin

Man nehme nur die Idee der Strafbarkeit für eine Meinungsäußerung über die Probleme des Zweiten Weltkriegs. Man kann heute vor Gericht landen für die historische Parallelisierung von Hitler und Stalin, oder der Stalinschen Sowjetunion und des faschistischen Deutschland. Das zwingt die Wissenschaftler mindestens zum Schweigen. Die Propagandisten auf der anderen Seite werden bald immer lauter, sie sind es schon.

Für jeden Historiker ist nicht zu übersehen, dass diese Parallelen bestehen, Stalin und Hitler gingen sehr ähnliche Wege. Den Zweiten Weltkrieg hat nicht nur Hitler geführt, sondern auch Stalin.

Im Ermittlungsausschuss hat man eine ganze Abteilung für die Fragen der Vergangenheit eingerichtet. Das Erstaunlichste ist, dass es in unserem Strafgesetzbuch noch keinen Paragraphen für den Vergleich zwischen Putin und Hitler gibt. Aber ich denke, das dauert nicht mehr lange.

Alle historischen Analogien verstehen sich nur näherungsweise. Historische Analogien an sich können uns zeitgenössische Prozesse nicht erklären. Aber man kann sie natürlich finden. Nehmen wir zum Beispiel die bekannten Merkmale des Faschismus, die im wissenschaftlichen Umgang lange vor der Perestroika aufkamen. Es ist doch klar, dass sie in Bezug auf die faschistischen Staaten des 20. Jahrhunderts geschrieben wurden, doch wenn wir sie auf das moderne Russland anwenden, dann finden wir vieles davon wieder. Allein das reicht schon.

Viele Russen sind gegen den Krieg

Was die Meinungsumfragen angeht, wie viele Menschen in Russland den Krieg derzeit unterstützen, so sagen unterschiedliche Meinungsforscher unisono, dass Umfragen unter vergleichbaren Bedingungen wie im heutigen Russland, das heißt in einem autoritären Land, zumal in einer solchen Extremsituation wie der eines Kriegs, keine verwertbaren Ergebnisse liefern. Es mischen sich sehr viele unterschiedliche Motive hinein, viele Menschen antworten gar nicht. Und logischerweise sind die Antworten ausgesucht.

Unter meinen Bekannten sind die allermeisten gegen den Krieg. Andererseits ist mir bewusst, dass ich zu einer Minderheit gehöre. Meinem Gefühl nach ist der Anteil derer, die gegen den Krieg sind, nicht niedriger als der Anteil derer, die ganz sicher für den Krieg sind. Etwas anderes ist, dass ich etwa die Hälfte der russischen Gesellschaft dem sogenannten Sumpf zuschreiben würde, wo man bereit ist, die offizielle Macht zu unterstützen.

Mit Andrei Suslov sprach Tatiana Firsova am 1.9.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

Categories: Deutsch, Karenina, QuellenTags: , Daily Views: 1Total Views: 22
‚gayropa‘-in-belarus‚Gayropa‘ in Belarus
gerechter-krieg-gegen-unglaeubigeGerechter Krieg gegen Ungläubige