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Gerechter Krieg gegen Ungläubige

Published On: 20. März 2023 17:49

©Wikipedia

Krieg gegen Ungläubige: Iwan der Schreckliche

Die Kolonialismusdebatte hat – was nicht verwunderlich ist – längst auch die Osteuropaforschung erreicht. Es wird dabei immer deutlicher, dass wir koloniale Abhängigkeiten und Machtverhältnisse heute als grundsätzliches Muster in den Beziehungen zwischen sozialen oder ethnischen Gruppen, Gesellschaften, Weltteilen und unterschiedlichen Kulturen begreifen müssen.

Schon vor Jahren hat die bulgarische Historikerin Maria Todorova darauf hingewiesen, dass auch die Wahrnehmung Osteuropas vergleichbaren Stereotypen folgt, wie wir sie aus der Beschreibung des globalen Südens kennen. Auch der Osten und im konkreten Fall der Balkan war natürlich eine Erfindung aus westlicher Sicht, was man schon daran erkennen kann, dass die Grenzen der westlichen zur „fremden“ östlichen Welt im Laufe der Zeit immer wieder verschoben wurden.

Der Osten – um diese Zuschreibung hilfsweise zu verwenden – war über Jahrhunderte Europas innerer Orient, galt als halbentwickelt, halbzivilisiert und semikolonial. Dagegen half auch kein Hinweis auf die große Literaturlandschaft Russlands, keine Erinnerung an die konstruktivistische Moderne zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts und kein Versuch, darauf hinzuweisen, wie sehr sich die Länder Osteuropas von jeher als Teil der europäischen Selbstvergewisserung verstanden haben und wie eng gerade die russische Kunst- und Literaturgeschichte mit der Selbstwahrnehmung im westlichen Europa und nicht zuletzt in Deutschland verflochten war. An der Werk- und Wahrnehmungsgeschichte von Wassily Kandinsky, der als der „deutsche Russe“ galt, lässt sich das exemplarisch ablesen.

Russen als europäische Bürger

Der britische Historiker Orlando Figes hat ein eindringliches Buch über dieses kulturell vereinte Europa des 19. Jahrhunderts geschrieben. Russland erschien dem Westen damals schon nicht mehr als ein fernes, unwirtliches Land. Die Salons von St. Petersburg und selbst von Moskau waren plötzlich nur noch eine Eisenbahnreise von Paris, Zürich oder Berlin entfernt. Russland schien auf demselben Zeithorizont angekommen zu sein, auf dem sich das europäische 19. Jahrhundert bewegte. Und eine Stadt wie St. Petersburg erschien „wie aus dem Nichts geschaffen“ als das große zivilisatorische Projekt, „um die Russen zu europäischen Bürgern umzuformen“. Dieses St. Petersburg war eben mehr als eine Stadt im äußersten Nordwesten Russlands, liest man bei Orlando Figes, es wurde „Russlands europäische Schule“.

Mithin wechselte das russische Reich im Laufe seiner wechselvollen Geschichte aber selbst auf die Seite der Kolonisatoren. Angesichts der riesigen Ausdehnung des Imperiums ist die Kolonisation der als Neurussland bezeichneten Schwarzmeerregion oder die Eroberung Sibiriens und der schier unendlichen Weiten jenseits des Urals dann ein innerrussisches Thema geworden. Seit Peter dem Großen sahen die westlich geprägten Eliten Russland als ein europäisches Reich mit einer Mission in Asien und nannten „Sibirien unser Indien oder unser Peru, um das russische Reich mit den europäischen Überseereichen gleichzusetzen“ (Figes).

Das Zarenreich als Kolonisationsopfer

Das war anderthalb Jahrhunderte früher noch völlig anders gewesen. Damals wurde das sich unter dem Großfürsten und späteren Zaren Iwan dem Schrecklichen staatlich und machtpolitisch organisierende Zarenreich selbst zum Ziel kolonialer Expansionsbestrebungen, was man ganz wörtlich nehmen kann. Denn die uns heute kaum noch bekannten Pläne des Pfalzgrafen Georg Johann I. von Pfalz-Veldenz in die Herrschaftsverhältnisse des alten Moskowien, wie man die Moskowiter Rus im 16. Jahrhundert nannte, einzugreifen, folgten in erstaunlicher Übereinstimmung mit dem kolonialen Muster der Eroberung Mexikos.

Nach dem Vorbild des berühmten Konquistador Hernán Cortés hatte der deutsche Abenteurer und spätere Diplomat Heinrich von Staden, ein typischer Kriegshandwerker seiner Zeit, der einige Jahre am Zarenhof verbrachte, die entsprechenden Angriffspläne ausgearbeitet und bediente sich dabei nahezu derselben Argumentation wie Cortés bei der Eroberung des Aztekenreichs. Es war gewissermaßen das „Musternarrativ für die Kolonialisierung fremder Kulturen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Mitteleuropa“, was die Kölner Slawistin Cornelia Soldat in einer mustergültigen Studie herausarbeiten konnte, die jetzt im transit-Verlag in der Reihe „Global- und Kolonialgeschichte“ erschienen ist. Auch im Falle des Moskowiterreichs ging es um einen gerechtfertigten Krieg, einen bellum iustum, gegen einen ungläubigen Gegner, dem schon von Natur aus das Schicksal bestimmt gewesen war, von seinem Heidentum erlöst zu werden.

Cornelia Soldat

Russland als Ziel kolonialer Eroberung
Heinrich von Stadens Pläne für ein Moskauer Reich im 16. Jahrhundert

Transcript Verlag

285 Seiten

45 Euro

ISBN 978-3-8376-6164-4

Zum Verlag

Was die Arbeit von Soldat von den inzwischen nicht mehr zu zählenden Publikationen zum Thema Kolonialismus unterscheidet, ist ihr Verzicht auf den heute fast schon üblichen aktivistischen Zungenschlag; mehr noch: ist ihre beeindruckende Materialsicherheit und ihre souveräne Kenntnis der nicht immer leicht zugänglichen zeitgenössischen Literatur. Sie wechselt scheinbar mühelos zwischen den Forschungsgebieten der frühen russländischen Geschichte und dem weiten Feld der hispanischen Eroberung der damals bekannt gewordenen Neuen Welt.

Die Eroberung Moskowiens

Und ganz nebenbei gelingt es ihr, die Wirkungsweise der rhetorischen Verfertigung von Geschichte an einem besonders eindrucksvollen Beispiel zu zeigen: der geplanten Eroberung Moskowiens mit einer damals nahezu selbstverständlichen Begründung eines legitimen Kriegs gegen die Ungläubigen und gegen einen heidnischen Herrscher. Der fremde König Montezuma erscheint als „Kannibalenkönig“, als „dunkler Herrscher, der sich von menschlichem Opferfleisch ernährte“; und in „ähnlicher Weise“ wird Iwan der Schreckliche von Staden porträtiert. Auch er erscheint als ein Herrscher, der willkürlich gegen geltendes, natürliches Recht regiert, was in der Folge natürlich das Bild Iwans des Schrecklichen und die Zeit seiner Terrorherrschaft, der Opričnina, nachhaltig prägen sollte, zumal Stadens Bericht aus dem Moskowiterreich bis heute als wichtige Quelle der frühen russischen Geschichte gilt. Der Eroberungskrieg wird zum gerechten Krieg gegen ein Unrechtsregime, als das die Zeit der Opričnina bis heute gesehen wird.

Die Staden-Handschriften, die neben der berühmten Beschreibung des Moskowiterlands und seiner Regierung auch den genannten Plan des „Anschlagks“ (sic!) auf Moskowien und außerdem eine Selbstbiografie des Autors enthielt, wurden erst um 1900 im Preußischen Staatsarchiv in Hannover durch den Archivar Max Bär entdeckt und dann ein Vierteljahrhundert später im sowjetischen Russland publiziert. Dort wurden sie zu einer der Schlüsselquellen für jene Schreckensepoche der russischen Geschichte, die sich mit dem Namen Iwans IV. verband und tief im kollektiven Gedächtnis Russlands verankert blieb. Die Zarenherrschaft tyrannisierte das eigene Volk, ihr Regiment war ein Unrechtsregime – diese Sicht passte wunderbar in das Geschichtsbild der neuen Sowjetunion.

Bei Staden werden die Moskowiter explizit zu denjenigen, „denen man Zivilisation und Christentum bringt, und die nur dazu da sind, ausgebeutet zu werden“. Er steht damit am Anfang einer langen, elenden Geschichte der Bewertung der Moskowiter und später der Russen als inferiore Menschen, deren eigener Staat nichts wert ist und „die man in kolonialer Weise ausbeuten kann“.

Man sollte sich hüten, leichtfertige und anachronistische Parallelen bis in die Gegenwart zu ziehen. Trotzdem ermöglicht die Studie von Cornelia Soldat den überraschenden Einblick in eine Zeit, die zwar anderen Spielregeln gehorchte, deren Betrachtung aber dennoch eine Ahnung aufkommen lässt, wie lange die Geschichte der Entzweiung zwischen Westeuropa und seinen östlichen Nachbarn schon zurückreicht und wie sehr tradierte Vorstellungen und historische Narrative die Wahrnehmung voneinander prägten.

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