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Kein Asyl für Konformitäts-Flüchtige!

Published On: 21. August 2021 6:25

Glückwunsch. Da Sie Achgut.com lesen, besteht eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass Sie zu einer Minderheit der Bevölkerung gehören, die nur 25 Prozent ausmacht: die Nonkonformisten. Sehr sympathisch. Ich mag Rebellen. Wobei, Glückwünsche sind vielleicht gar nicht angebracht. Vor 100.000 Jahren hätte man Sie für Ihre unsäglichen Äußerungen, Ihren Hass und Ihre Hetze, aus der Gruppe ausgestoßen und somit Ihre Überlebenschancen auf der Halbinsel Bouri im heutigen Äthiopien auf null gesenkt. Evolutionsgeschichtlich gesehen, ist Ihre Eigenschaft also eher schädlich. Und auch in der Gegenwart sind soziale Ächtung und berufliche Konsequenzen zwar nicht tödlich, wie damals im Pleistozän der Biss des bereits auf den Ausgestoßenen lauernden Tigers, aber dennoch sehr unangenehm. Dem Konformitätsdruck muss man eben auch standhalten können. Und 75 Prozent können das nicht. Sie werden ihre Meinung oder ihr Verhalten der wahrgenommenen Mehrheit anpassen und so den internen Konflikt auflösen, der entsteht, wenn man sich gegen die Gruppe stellt. 

Das Konformitätsexperiment nach Asch wird heute noch als Versuch in der Psychologie angewandt. Dabei wird stets untersucht, wie eine offensichtlich als falsch erkennbare Mehrheitsmeinung die öffentlich geäußerte Einschätzung der Testperson über den betreffenden Sachverhalt beeinflusst. Schon ab dem Alter von sechs Jahren lässt sich zeigen, dass Menschen ihren eigenen Standpunkt dem der Gruppe anpassen. Jüngere Kinder zeigen kein solches Verhalten. Vielleicht erinnern deshalb auch einige Nonkonformisten an trotzige Kinder. 

Salomon Asch, der Vater des Experimentaufbaus, unterscheidet zwei Arten von Konformität. Nimmt ein Individuum die Mehrheitsmeinung sowohl öffentlich als auch privat an, verinnerlicht es also gänzlich die Gruppenposition, spricht Asch von einer Konversion – der stärksten Form der Konformität. Unterscheidet ein Individuum zwischen dem, was es öffentlich sagt und dem, was es privat glaubt, so handelt es sich um Compliance. Aus der Befragung der Experimentsteilnehmer leitet Asch die Beweggründe für Konformität ab. Auf der einen Seite nannten die Probanden die Angst vor Ausgrenzung, also soziale Normen, als Grund für ihre wissentlichen Falschaussagen. Dies katapultiert uns wieder in den afrikanischen Regenwald vor 100 000 Jahren. Sich gegen die Gruppe zu stellen ist lebensgefährlich. Andere machten deutlich, dass sie selbst ganz einfach unsicher waren, was nun die richtige Antwort sei und die Mehrheitsmeinung als Wegweiser genutzt hätten. Dieser Grund für Konformität führt meist zur Konversion. 

Für die Wissenschaft! Für das Klima! Für die Volksgemeinschaft!

Aber nicht nur ich mag Rebellen, auch jene, die sich aus Angst vor Ausgrenzung konform verhalten, sind dankbar für Nonkonformisten. Im Versuchsaufbau reicht bereits ein Abweichler in der Gruppe, um den Probanden gegen den Gruppendruck zu immunisieren. Auch sinkt die Konformität, wenn die Antworten aufgeschrieben und somit zurück ins Private verfrachtet werden. Zusätzlich scheinen auch kulturelle Aspekte eine Rolle zu spielen. Teilnehmer aus individualistischeren Kulturen passen sich weniger an als Menschen aus Kulturen, die das Kollektiv in den Mittelpunkt stellen.  

Das Erfolgsmodell Homo sapiens setzt auf Kooperation. Allein ist es dem Angriff des Tigers hilflos ausgeliefert, in der Gruppe erfindet es Werkzeuge und verteidigt sich effektiv. Entscheidend für die menschliche Fähigkeit zur komplexen Kooperation ist, neben der Konformität, auch Gehorsam gegenüber Autoritäten in der sozialen Hierarchie. Das Befolgen der Anweisungen von Eliten ist ein evolutionärer Vorteil, der uns aus der Höhle bis ins Weltall gebracht hat. Ordnen wir uns in einer Hierarchie unter, so verschiebt sich unsere Denkweise von der eines autonomen Individuums zu der eines Agenten – eines Beauftragten oder einfach eines Mittels. Stanley Milgram bezeichnet diese Eigenschaft als „agentic state“ und jeder, der mal mit einer Gruppe spazieren war, kennt das Verhalten. Die Verantwortung für das eigene Handeln – oder den Weg, um beim Gruppenspaziergang zu bleiben – wird abgegeben. Am effektivsten scheint der Menschen durch Ideologien in diesem Bewusstseinsstatus gehalten zu werden. Beim Milgram-Experiment war der Satz „Es ist für das Gelingen des Experiments notwendig, dass Sie weitermachen“ am erfolgreichsten, um die Probanden zum Gehorsam zu bewegen. Für die Wissenschaft! Für das Klima! Für die Volksgemeinschaft! Für den Klassenkampf!

Wäre die Erdgeschichte ein Theaterstück, das sich über einen Tag erstreckte, so würde der Mensch erst eine Minute vor Mitternacht die Bühne betreten. Ist das Herdentier von der afrikanischen Halbinsel mit dem Konzept des Citoyens der Aufklärung im demokratischen System überfordert? Können wir überhaupt Demokratie? Die Antwort darauf ist eine moralische. Auch wenn der Mensch stets nach einer äußeren Legitimation seiner Entscheidungen sucht, kann keine externe Autorität als Rechtfertigung fungieren. Die Autonomie des Einzelnen bedeutet, dass jede Entscheidung eine Gewissensentscheidung ist. Mit dieser Freiheit erkennt man die Würde des Menschen an. Kehrt man von dieser Sichtweise ab, so muss man zwangsläufig für autoritative Herrschaftssysteme plädieren. Menschen müssten dann über andere Menschen bestimmen, da sie ja besser wissen, was richtig ist, als die Betroffenen selbst. Eine Diktatur ist unmoralisch. Uns bleibt nur die Demokratie.

Man sieht den ARD-Redakteur spöttisch-pikiert mit den Augen rollen

Trotz dieses aufklärerischen Autonomie-Arguments bleiben die Eigenschaften des Menschen als zur komplexen Kooperation fähigen Wesen – Gehorsam und Konformität – bestehen. Auch wenn es in der Berline Start-up-Szene nicht gerne laut gesagt wird, der Mensch denkt in Hierarchien, er lebt in Hierarchien und er braucht Hierarchien. Es werden sich somit immer Eliten herausbilden, deren Stimme durch ihre Definition als Autorität – z.B. zugeschriebene Kompetenz – ein starkes Gewicht hat. Unser „agentic state of mind“ und unsere Neigung zur Konformität geben ihnen eine zentrale Rolle in einer Demokratie. Um es mit Spiderman zu sagen: „Aus großer Macht folgt große Verantwortung“

Als die Amerikaner im April 1945 das KZ Dachau befreiten, kam es zum so genannten Dachau-Massaker. Einige GIs richteten gerade gefangengenommenes SS-Wachpersonal direkt selbst. Als britische Kräfte einige Wochen vorher das KZ Bergen-Belsen befreit hatten, kam es zu keinen solch spontanen Racheakten. Das Gräuel, das sich beiden Einheiten bot, war allerdings gleich. Generell verzeichneten unter den Alliierten die Briten die geringste Anzahl an Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg. Eine mögliche Erklärung könnte die spezielle Schulung der britischen Elite sein. Offiziere werden seit 1741 in einer königlichen Militärakademie – heute in der Royal Military Academy Sandhurst – ausgebildet. Vielleicht sorgte dieses Training dafür, dass die britische Armee das Völkerrecht noch ernster umsetzte als die anderen Alliierten Kräfte. Vielleicht liegt es aber auch an einem altmodischen Ehrgefühl der britischen Upper-Class. Elite sein bedeutet, eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu tragen.

Spätestens seit Alexander Gaulands Gastbeitrag vor drei Jahren in der FAZ, in dem er – in Anlehnung an David Goodharts Thesen zum Populismus und sicherlich nicht an eine Rede, die Hitler 1933 vor Arbeitern der Siemenswerke hielt, wie Sigmar Gabriel im Tagesspiegel insinuierte  – aufzeigte, wie eine urbane Elite  weltweit „kulturell und politisch den Takt vor[gibt]“ und dabei die Belange der bürgerlichen Mitte und des einfachen Mannes negiert bis verachtet, ist eine Kritik an Eliten populistisch, dumm und plump. Und Trump und Brexit zeigen, wohin populistische Elitenkritik führt. Man sieht den ARD-Redakteur spöttisch-pikiert mit den Augen rollen. Wenn das nicht hilft, um Konformität wieder herzustellen, hat Sigmar Gabriel ja schon mal die Nazi-Keule poliert. Ich probiere es trotzdem mal.

Speedy war plötzlich Proll

Wenn wir davon ausgehen, dass Konformität und Gehorsam, wie durch die beschriebenen Experimente beobachtete Eigenschaften des Menschen sind, dann stehen wir a) vor einem demokratischen Problem, vor dessen Hintergrund b) Eliten eine große Verantwortung tragen. Diese Verantwortung besteht auf zwei Ebenen. Auf der einen Seite müssen sie für ihre Überzeugungen einstehen. Nicht, weil sie per se recht haben, sondern weil sie gehört werden und vielleicht der eine Nonkonformist sind, den es braucht, um die aus Angst Angepassten zum Sprechen zu bewegen. Auf der anderen Seite tragen sie die Verantwortung dafür, dass ein breiter Diskurs – unabhängig von ihrer eigenen Meinung – stattfinden kann. Dieser aufklärerische Ansatz – im Sinne der erwähnten menschlichen Autonomie – müsste das Ethos einer demokratischen Elite sein. Ohne eine solche Tradition kann die Demokratie mit dem Primaten „out of Africa“ nicht bestehen.

Denn die Demokratie lebt vom Dissens, vom Abweichen. Jonah Berger, Professor an der Universität von Pennsylvania, untersucht, warum Menschen sich von einer bestimmten Gruppe abgrenzen. Also warum sie sich – in Bezug auf die betreffende Gruppe – gerade nicht konform verhalten. Die Geschichte des Taschenmodells Speedy von Louis Vuitton ist ein gutes Beispiel für eine solche Dynamik. Anfang der 2000er, unter dem Designer Marc Jacobs, wurde diese Monogram-Canvastasche das It-Piece. Ein Statussymbol. Jeder wollte sie, nur die Schönen und Reichen hatten sie. Bis immer mehr Reiserückkehrer nach dem Sommerurlaub in der Türkei durch die Dortmunder Innenstadt mit einer vermeintlichen Speedy flanierten. Speedy war plötzlich Proll. Mit allem, was wir tun oder nicht tun, senden wir Signale an unsere Umwelt. Die Louis-Vuitton-Avantgarde identifizierte sich gerade nicht mit der Gruppe der Prolls und wollte dieses Signal mit dem Tragen der Tasche nicht senden. Sie grenzte sich ab. Und trägt bis heute dieses Modell nicht mehr. Wir senden Signale, um sicher zu gehen, dass unsere Mitmenschen unsere Identität richtig erkennen. Die Tasche hat sich im Design nicht geändert, aber das Signal ist jetzt ein anderes. 

In ihrer Rede vor den Delegierten des CDU-Parteitags in Leipzig 2003 vertrat Angela Merkel die gleiche Position zum Asylmissbrauch wie die AfD 2015. Es ist das gleiche Taschenmodell. Nur die damit signalisierte Identität hat sich verändert. Und das ist das große Versagen der Elite. Es ist die Aufgabe der Elite, Prügel einzustecken, weil sich 75 Prozent nicht trauen. Aber die Elite hat sich nicht dafür eingesetzt, dass der breite Diskurs abgebildet wird und somit verschiedene legitime Identitäten möglich sind. Es gibt nur noch das eine Taschenmodell, das man tragen kann oder nicht. Prada, Celine, Dior – existieren nicht, finden öffentlich nicht statt. Aktuell kann man nur zwei Signale senden: Bist du ein guter Mensch oder nicht – Migration, EU, Corona- oder Klimapolitik. Abweichen bedeutet die Identität des Rechten, des Nazis, des ungebildeten Prolls, des Leugners anzunehmen. 

Die FDP hat eklatant versagt

„Wir sprechen mit allen demokratischen Parteien“ ist die Standardantwort auf Fragen zu jeglichen Koalitionsbildungen und schließt die AfD explizit aus. Politstrategisch ist das verständlich. So unterstreicht man die Identität, welche die Wähler dieser Partei mit dem Signal in der Wahlkabine annehmen und führt vielleicht bei manchem potenziellen Oppositionellen den Stift am Wahltag. Jenseits von Politstrategie wäre es die Aufgabe der FDP, als vermeintliche Partei der freiheitlichen Werte, dabei nicht mitzumachen. Nach der Wahl Thomas Kemmerichs zum Thüringer Ministerpräsidenten im Februar 2020 ist die etablierte liberale politische Elite nicht ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung nachgekommen. Im Gegenteil. Sie hat eklatant versagt.

Sie kapitulierte vor dem Signal. Sie wollte nicht zu den Prolls gehören. Auch Daimler-Chef Dieter Zetsche ignorierte seine Verantwortung als Elite, als er 2015 ein Wirtschaftswunder durch Flüchtlinge in der Öffentlichkeit proklamierte. Ein Jahr später hatten 29 Dax-Konzerne vier solcher Migranten eingestellt, Daimler keinen einzigen. Joe Kaeser traf sich, in seiner Funktion als Vorstandsvorsitzender von Siemens, mit Luisa Neubauer. Sie duzen sich. Elite unter sich. Die Beteiligten bei #Allesdichtmachen sind das einzige Beispiel für einen nonkonformistischen Zwischenruf, der mir aus der letzten Zeit einfällt. Nur als beliebter Tatortschauspieler kann man sowas öffentlich überleben. 

Heutige Eliten sind in erster Linie Aktivisten und geschaffene Heldenfiguren, wie einst Hans Ulrich Rudel, oder Opportunisten wie Zetsche und Kaeser. Ich will niemanden absprechen, dass er nicht wirklich von dem überzeugt ist, was er sagt. Aber eine aufklärerische Tradition der Elite für die Verantwortung für den gesamtgesellschaftlichen Diskurs, die sich aus der eigenen Fehlbarkeit und der Würde des Einzelnen ableitet, die fehlt und das zerstört unser demokratisches Fundament.  Eine Demokratie, ohne demokratische Eliten, kann nicht lange bestehen. Lew Kopelew bringt es auf den Punkt: „Aufrichtig ist auch der verbrecherische Fanatiker, dessen Worte und Handlungen seinen Überzeugungen entsprechen. Doch moralisch ist nur der, der seine Überzeugungen am Leben misst, daran, wohin die von seiner Überzeugung diktierten Worte und Taten führen.“ Hoffentlich müssen wir nicht das durchleben, was er erlebte, um das wirklich zu begreifen.

Lisa Marie Kaus war nach einem Studium der Volkswirtschaftslehre im Europäischen Parlament in Brüssel tätig. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an ihrer Promotion.

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