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Flüssigsalzreaktor: Aus der Wüste Gobi kommt die Zukunft

Published On: 22. September 2021 19:13

China hat einen Flüssigsalzreaktor gebaut. In der Wüste Gobi steht nun eine Maschine, die die Energiewirtschaft revolutionieren kann. Das belegt einerseits, wie Verbote hierzulande den Weg zu Innovationen versperren. Aber andererseits kann es auch uns wieder zu technologischen Höchstleistungen anspornen.

IMAGO / agefotostock

Landstraße in der Wüste Gobi in China

Der hochgewachsene, hagere Mann spricht frei und trotzdem wie gedruckt. Sein rhetorisches Talent steht außer Frage, aber so recht will der Funke nicht überspringen. Es ist auch schwer für Friedrich Merz an einem Samstagnachmittag auf kleiner Bühne in einer kleinen Stadt, die geschätzt zweihundert Zuhörer zu wecken und aus ihrer Lethargie zu reißen. Witze über den politischen Gegner funktionieren immer, aber mit den Sachfragen, die ihn erkennbar mehr bewegen, dringt er kaum durch. Vielleicht sind die Deutschen längst zu müde, zu abgestumpft und zu träge, um die Bedeutung dessen, was er ihnen erläutert, wirklich zu begreifen. Von der verkorksten Energiewende über die drohende europäische Schuldenunion bis hin zur veränderten geopolitischen Lage malt er das große Panorama der Baustellen, die den Diskurs weit eher prägen und die Wahlentscheidung weit mehr beeinflussen sollten, als Gendersprech, Lastenräder oder Tempolimit. Und besonders eindringlich formuliert er immer dann, wenn er auf die „gelbe Gefahr“ verweist, ohne diese vor über einem Jahrhundert geprägte Begrifflichkeit wörtlich zu verwenden. Chinas Streben nach globaler Hegemonie ist offensichtlich, wenngleich die von Friedrich Merz angeführten Beispiele der Aufstockung des Botschaftspersonals in Kabul und das Konzept der neuen Seidenstraße die Herausforderung nur oberflächlich beschreiben. Über Chinas künftige Rolle in der Welt entscheiden wie einst bei Großbritannien, Deutschland und den USA zuvorderst technische Innovationen. Ökonomische, kulturelle und politische Dominanz fallen denen automatisch zu, die Apparate und Werkzeuge für eine immer effektivere Erfüllung von Bedarfen entwickeln, produzieren und liefern.

Deswegen sollten Friedrich Merz und die gesamte deutsche Politik den Blick nach Wuwei im Nordwesten Chinas richten. Denn dort, genauer gesagt in dem bereits in den Randzonen der Wüste Gobi gelegenen Hongshagang Industriepark im Kreis Minqin, wird gerade die wohl eleganteste jemals gebaute Maschine fertiggestellt. Jüngsten Meldungen zufolge sind die Baumaßnahmen beendet und das Gerät soll noch in diesem Monat seinen Probebetrieb aufnehmen. Es handelt sich um den mit der Abkürzung TMSR-LF1 bezeichneten ersten Thorium-Flüssigsalzreaktor der Welt (Thorium Molten Salt Reactor – Liquid Fluoride 1). Dessen Magie in der unvergleichbar kunstfertigen Ausnutzung des durch die Naturgesetze eröffneten Gestaltungsrahmens besteht.

Hierzulande gilt die Kernenergie noch immer vielen als Hochrisikotechnologie, von der man besser die Finger lässt. Gespeist wird diese Ablehnung aus der Angst vor Unglücken und Unfällen, bei denen radioaktives Material in die Umgebung gelangen und im Falle einer Kernschmelze gar ganze Landstriche verseuchen und unbewohnbar machen könnte. Hinzu tritt die Notwendigkeit der sicheren Lagerung hochtoxischer Abfälle für lange Zeiträume von zehn- oder gar hunderttausenden von Jahren. Doch wie sähe der Diskurs aus, gäbe es einen Reaktor ohne diese Risiken? Ein solcher nämlich ist der TMSR-LF1. Katastrophen wie in Fukushima oder Tschernobyl müssen die Menschen in Wuwei schon aus rein physikalischen Gründen nicht befürchten. Und gefährliche Stoffe wie Plutonium oder andere Transurane produziert die Anlage wenn überhaupt nur in homöopathischen Dosen. Beides resultiert aus einem raffinierten Konzept, dem eine Charakterisierung des Flüssigsalzreaktors als schnödes Kernkraftwerk nicht gerecht wird. Man sollte ihn besser als eine chemische Fabrik betrachten, die im Betrieb auch noch deutlich mehr Energie erzeugt als sie verbraucht.

Zunächst wird er eben nicht mit Uran gefüttert, sondern mit Thorium. Sämtliche vorgelagerten Prozesse von der Anreicherung bis hin zu Konfektionierung, Lagerung und Transport der Brennelemente und damit auch alle mit dieser Kette verknüpften Fehlerquellen entfallen. Thorium ist ein in der Erdkruste reichlich vorhandenes, mit einer Halbwertszeit von mehr als vierzehn Milliarden Jahren nur schwach radioaktives Schwermetall. Es findet sich häufig in Monazit-Mineralien, aus denen man Industriemetalle wie die seltenen Erden Lanthan, Cer, Neodym und Samarium gewinnt. Da es für Thorium derzeit kaum Anwendungsmöglichkeiten gibt, bildet es einen Teil des ungenutzten Abraums entsprechender Bergwerke.

Der TMSR-LF1 kann als eine Maschine verstanden werden, die das wertlose Thorium über eine Kette von Kernreaktionen in wertvolle, weil nützliche andere Elemente verwandelt. Gold gehört zwar nicht dazu, aber dennoch kommt der Reaktor dadurch dem sehr nahe, was die Alchemisten früherer Epochen als „Stein der Weisen“ betrachteten. In einem ersten Schritt wird in der Anlage aus Thorium das Isotop Uran 233 erbrütet. Dieses ist mit einer zur Aufrechterhaltung einer Kettenreaktion ausreichenden Neutronenproduktion spaltbar. Dabei entsteht so ungefähr das gesamte Periodensystem, allerdings zerfallen die meisten Spaltprodukte sehr schnell weiter. Zu denen mit längeren Halbwertszeiten zählen viele, für es Bedarfe in zahlreichen Anwendungen wie der Nuklearmedizin, der Sensor- und der Lichttechnik gibt. Und wenn man sie nicht weiterverkaufen kann, ist ein Lagerzeitraum von dreihundert Jahren ausreichend, bis sie nicht mehr gesundheitsgefährdend sind. Dreihundert wohlgemerkt, nicht dreihunderttausend.

Am Ende verwandeln sich alle Radionuklide in stabile, überaus nützliche Metalle wie Rubidium, Zirconium, Molybdän, Ruthenium, Palladium, Neodym und Samarium, um nur einige zu nennen. Und in Xenon, das auf Erden seltenste und teuerste Edelgas, das als Isolationsmedium, in Lichtbogenlampen, Projektoren und Lasern und nicht zuletzt auch in Ionentriebwerken für die Raumfahrt zum Einsatz kommt.

Da im TMSR alle Kernreaktionen in einer heißen Salzschmelze, also in einem flüssigen Medium stattfinden, lassen sich diese Produkte durch diverse chemische und physikalische Methoden vergleichsweise bequem während des Betriebs in hoher Reinheit gewinnen. Herkömmliche Reaktoren mit ihren keramischen Brennelementen bieten diese Option nicht. Die Chinesen haben sich für eine Mischung aus Lithium- und Berylliumfluorid entschieden, die erst bei einigen hundert Grad flüssig wird und Betriebstemperaturen von über eintausend Grad erlaubt. Die erforderliche thermische Energie liefern die Spalt- und Zerfallsprozesse. Sie kann für die Stromproduktion oder für industrielle Hochtemperaturprozesse etwa in der Metallverarbeitung oder der Wasserstoffproduktion genutzt werden. Eine Überhitzung des Reaktors und damit eine Kernschmelze sind unmöglich (zumal der Kern ja bereits im geschmolzenen Zustand vorliegt). Wird die Salzschmelze zu warm, dehnt sie sich aus, die Dichte des Kernbrennstoffs sinkt, es finden weniger Spaltungen statt und das Medium kühlt wieder ab.

Aus einem Leck würde die Salzschmelze natürlich austreten, aber sofort erstarren und dadurch die radioaktiven Stoffe in einer glasartigen Masse sicher einschließen. Eine Kontamination wäre daher auf die Anlage selbst beschränkt und könnte die Umgebung nicht betreffen. Phasenübergänge flüssig-gasförmig finden im Reaktor nicht statt, er wird unter Normaldruck oder nur geringem Überdruck betrieben. Wasser, das verdampfen und in die Atmosphäre gelangen oder in Wasserstoff und Sauerstoff gespalten und dann eine Knallgas-Explosion wie in Fukushima auslösen könnte, fehlt als Betriebsmittel völlig. Was übrigens eine völlig flexible Standortwahl ermöglicht, bis hin zu äußerst trockenen Gegenden wie der Wüste Gobi. Sollte die Steuerung des Systems komplett ausfallen, beispielsweise wegen eines vollständigen Energieverlustes nachdem eine Naturkatastrophe wieder mal sämtliche Notstromgeneratoren vernichtet, dann öffnen sich Ventile und Leitungen, durch die die Salzschmelze in unterirdische Behälter abfließt und dort abkühlt. Zu erwähnen bleibt noch die Entfernung zwischen Uran 233 und Plutonium oder weiteren Transuranen im Periodensystem. Das im TMSR als Energiequelle fungierende Uranisotop müsste fünf oder mehr Neutronen schlucken, ohne zwischenzeitlich von diesen gespalten zu werden, um zu jenen toxischen und langlebigen Stoffen zu transmutieren, die die Frage nach einer langfristigen Endlagerung aufwerfen. Das ist höchst unwahrscheinlich. Und die geringen Mengen an Brutprodukten, die doch entstehen, verbleiben einfach in der Salzschmelze, da sie dort selbst wieder als Energiequellen dienen.

Ein brillanter Entwurf, dessen Ursprung natürlich in den USA zu finden ist. In der 1960er Jahren hat man dort bereits das Konzept im Labormaßstab erfolgreich erprobt, dann aber aus politischen Gründen nicht weiterverfolgt. Der TMSR steht exemplarisch für die Fortschrittsbremse, die mit einem allzu großen Einfluss von Regierungen auf den Fortgang technischer Entwicklungen immer einhergeht. Und er zeigt die Idiotie jener Vorstellung auf, die in Verboten einen Innovationstreiber sieht. Nach Fukushima und Tschernobyl aus der Kernenergie auszusteigen bedeutet nur, nicht dazulernen zu wollen und sich selbst von der Gestaltung der Zukunft zu verabschieden. Eine Lücke zu lassen, in die Länder wie China dann nur allzu gerne vorstoßen. Die dann selbst ein System anbieten, das die bedarfsgerechte Energieversorgung in allen Maßstäben selbst in abgelegenen Regionen sicherstellen kann, von der Gobi über den Himalaya bis zur Sahara, von der Erde über den Mond bis zum Mars.

Der TMSR wird außerdem mit den Radionukliden, die er preiswert liefert, Innovationsschübe in vielen anderen Sektoren auslösen und unterstützen, von der Diagnose und Therapie in der Medizin bis hin zur Mess- und Antriebstechnik. Ganz zu schweigen von dem Transfer der für ihn entwickelten Komponenten in andere Anwendungen. Man denke allein an hochtemperatur- und korrosionsfeste Materialien, aber auch an Systeme zur chemischen und mechanischen Regulierung der Salzschmelze. Denn solche eignen sich hervorragend zur Speicherung von Energie, etwa in solarthermischen Kraftwerken. Technologien sind immer miteinander verknüpft, die eine profitiert von der anderen und Innovationen entstehen ohnehin meist aus der Neukombination mehrerer, zunächst unterschiedlichen Zwecken dienender Ansätze. Wer die eine Technik verbietet, behindert damit auch die Generierung neuer wettbewerbsfähiger Lösungen in allen anderen Bereichen.

Die Erfindungen Dritter aufzugreifen, diese gegebenenfalls an sich verändernde Rahmenbedingungen anzupassen und in marktfähige Produkte zu verwandeln, ist offensichtlich Chinas derzeitiges Erfolgsrezept. Sie kopieren damit nur die Strategie, die Deutschland im neunzehnten und die USA im zwanzigsten Jahrhundert vorangebracht hat. Und nachdem sie damit in der Informationstechnik, in der Biotechnologie, im Automobilbau und sogar in der Luft- und Raumfahrt zum Westen aufgeschlossen haben, greifen sie nun auch nach einer Führungsrolle in der Energietechnik. Die Chinesen starteten ihr TMSR-Programm im Jahr 2011 und feiern nun, nach nur zehn Jahren, die Inbetriebnahme eines Demonstrators mit einer Leistung von zwei Megawatt. Ein in der dreihundert Megawatt-Klasse angesiedelter Nachfolger soll als kommerzieller Prototyp bis 2030 folgen.

Falls die Erprobung in der Wüste Gobi erfolgreich verläuft, verfügt China über ein Gerät mit dem Potential, die Energieproduktion ähnlich zu revolutionieren wie es von der Kernfusion schon immer erwartet wird. Was auch einen Hoffnungsschimmer für uns enthält. In Europa und Nordamerika laufen immerhin einige Dutzend vielversprechende Projekte von größeren Unternehmen und jungen Startups, die sich mit der Entwicklung von flüssigsalz-, metall- oder gasgekühlten, inhärent sicheren und hocheffizienten Kernreaktoren einer neuen Generation befassen. Darunter findet sich mit dem Dual Fluid Reaktor auch ein cleveres deutsch/kanadisches-Vorhaben. Der TMSR-LF1 belegt in diesen Tagen die Umsetzbarkeit und Zukunftsfähigkeit solcher Bestrebungen. Das mag eine Inspiration für Investoren wie für Behörden und Administrationen sein.

Wir haben es also selbst in der Hand, wie gefährlich die „gelbe Gefahr“ tatsächlich wird. Das hat Friedrich Merz in seinen Ausführungen zum Thema, ob auf den Marktplätzen der Republik oder in den Fernseh-Talkshows zur Wahl, leider unterschlagen. Wir werden China nicht hindern können, uns ein- oder gegebenenfalls zu überholen. Aber wir können darauf reagieren. Entweder ducken wir uns weiterhin weg und gefallen uns in dekadenter Ignoranz. Oder wir nehmen den Fehdehandschuh auf und befreien unsere Forscher, Ingenieure und Techniker endlich von den ihnen angelegten ideologischen Fesseln. Es gilt, den Ehrgeiz anderer Nationen weniger als Bedrohung denn als Ansporn zu betrachten. Wenn die einen Flüssigsalzreaktor in der Gobi errichten, dann konstruieren wir halt einen in der norddeutschen Tiefebene. Was in der asiatischen Ödnis gelingt, passt auch in eine Windradwüste.


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