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Angela Merkels Ballastabwürfe

Published On: 7. Oktober 2021 18:19

Wer regierte Deutschland eigentlich seit 2005? Die Kanzlerin spricht nur sehr selten von sich. Wer ihre Rede deuten kann, erhält trotzdem ein ungefähres Bild von ihren Motiven. Und außerdem einen guten Blick auf ihre bleibenden Errungenschaften.

picture alliance/dpa/dpa POOL | Jan Woitas

Im August 2021, also in der allerletzten Phase ihrer Regierungszeit erschien ein Band mit dem leicht frivolen Titel: „Angela Merkel. Die großen Reden“ (Droemer Knaur, 192 Seiten). Nach der katalytischen Abtrennung ihrer kleineren und mittelgewichtigen Ansprachen blieben, wie der Vorwortautor und Parlamentskorrespondent der Süddeutschen Zeitung Nico Fried meint, „eine erkleckliche Anzahl bemerkenswerter Reden“ übrig, die, so Fried, unerlässlich zum Verständnis ihrer Regierungszeit seien. Fried behauptet in seinem Text eine Halbdistanz zu dem, was dann an Kanzlerinnentexten folgt. „Ein Problem an Merkels Reden“, schreibt er, „war das Zuhören.“ Das stimmt, wenn auch auf eine andere Weise, als Fried es wahrscheinlich meint. Hätten mehr Hauptstadtjournalisten ihren erklecklichen Reden besser gelauscht und sich ab und zu ein paar eigentlich unvermeidliche Fragen gestellt, wäre ihr Bild der Kanzlerin nicht so merkwürdig verschwommen und indifferent geraten, wie es über gut anderthalb Jahrzehnte der Fall war.

Fast alle Merkel-Porträts von Chefschreibern der Leitblätter in den vergangenen 16 Jahren wirken wie Freiluftaquarelle bei Nieselregen. Meist beklagten die Künstler ihre ungünstigen Arbeitsbedingungen. Vermutlich interessierten sich viele von ihnen wirklich nicht dafür, welche Person das Land eigentlich regierte. Dazu kommt ein grundsätzliches Wahrnehmungsproblem. Die von Fried erwähnte Schwierigkeit des Publikums, Merkel zuzuhören, stimmt vor allem für ihre Auslassungen und Subtexte. Wer aber einen Sinn für das Nichtausgesprochene und Getarnte bei Angela Merkel besitzt, wer also merkt, dass in ihrem Fall hauptsächlich die Löcher den Käse strukturieren, der lernt aus ihren Reden durchaus einiges über ihre Person. Beziehungsweise: Er könnte einiges lernen. Mehr vermutlich, als ein Parlamentskorrespondent je wissen wollte.

Meisterin des kommunikativen Beschweigens und der verbalen Spachtelmasse

Am 3. Oktober 2021 hielt Merkel in Halle die mutmaßlich letzte erkleckliche Rede ihrer Amtszeit. Das Thema der deutschen Vereinigung vor 31 Jahren lieferte ihr das Material für eine Ansprache, die etliche Journalisten umgehend zu ihrer bisher persönlichsten erklärten. Was gar nicht so falsch ist; in ihrer Mischung aus kommunikativem Beschweigen, merkwürdig passiv-aggressiven Versatzstücken, Ressentiment, Selbststilisierung und der unvermeidlichen verbalen Spachtelmasse dazwischen ragt sie tatsächlich aus den üblichen Wortmeldungen heraus. Es trifft sich, dass es sich bei der ersten Verlautbarung aus dem Band „Die großen Reden“ auch um eine deutsche Einheitsrede handelt, nämlich die erste ihrer Kanzlerschaft, gehalten am 3. Oktober 2006 in Kiel. Die Exegese der beiden Texte lohnt sich. Jedenfalls dann, wenn sie, siehe oben, das von der Rednerin jeweils Ausgelassene in die Deutung einschließt.

Merkels Reden zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Aussagen in große Mengen des oben erwähnten Füllmaterials einbettet, indem sie allgemein Bekanntes aus dem Archiv referiert, obwohl sie annehmen kann, dass ihr Publikum weiß, was am 3. Oktober gefeiert wird. Der Wikipedia-Abschnitt ihrer Ansprache von 2021 liest sich so:

„Unser Nationalfeiertag, dieser Tag der Deutschen Einheit, geht nicht auf ein Ereignis weit vor unserer Zeit tief in unserer Geschichte zurück. Vielmehr erinnert er an etwas, das die meisten von uns bewusst miterlebt haben und das heute vor 31 Jahren unser Leben verändert hat. Der 3. Oktober 1990 steht für die Wiedervereinigung unseres Landes in Frieden und Freiheit.“

Worauf ein typischer Merkelismus folgt, ein Satz, auf den wahrscheinlich wirklich niemand außer ihr käme: „Diese Freiheit brach nicht einfach über uns herein, diese Freiheit wurde errungen.“ An die Ausführung über die nicht hereingebrochene Freiheit schließt sich eine für ihre Verhältnisse außergewöhnliche Würdigung der Zeit von 1989 bis 1990 und eine bei Merkel erst recht seltene Stelle an, in der sie auf sich selbst zu sprechen kommt. „Das Land, das wir heute als wiedervereinigtes feiern, konnte werden, weil es Menschen in der DDR gab, die für ihre Rechte, für ihre Freiheit, für eine andere Gesellschaft alles riskiert haben“, heißt es bei ihr zum Lob der Demonstranten in der DDR: „Wer damals aufstand, wer für die demokratischen Rechte sprach und demonstrierte, konnte nicht sicher sein, dass es sich lohnen würde, dass die Revolution gelingen würde, dass es nicht bitter bestraft würde.“

Danach kommen die raren Merkelsätze darüber, wie sie selbst diese Zeit zwischen dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft und dem 3. Oktober 1990 erlebte:

„Für mich persönlich, die ich die Erfahrung der Mauer, der SED-Diktatur, der Angst vor dem Bespitzelungsapparat der Staatssicherheit, der Unfreiheit und Enge noch kenne, sind das Ende der Teilung und die Demokratie immer noch und immer wieder etwas Besonders – und zwar weil ich weiß, dass sie errungen wurden und nicht zuletzt weil man die Demokratie auch leben, ausfüllen, schützen muss.“

Ihren albern personifizierenden Satz über die Demokratie („Sie braucht uns so, wie wir sie brauchen“) kann ein Exeget ruhig beiseitelassen. Aber die Passage vorher ist hochinteressant. Sie steht in einem engen Zusammenhang mit einem anderen Abschnitt, in dem Merkel ebenfalls über sich spricht. Beachtlich wirkt die Aufzählung „Erfahrung der Mauer, Unfreiheit, Enge, Angst vor dem Bespitzelungsapparat der Staatssicherheit“ erst durch Merkels DDR-Biographie, über die nicht besonders viel bekannt ist, einiges aber doch. Als Mitarbeiterin der Akademie der Wissenschaften in Berlin gehörte sie zum Kreis der Westreiseberechtigten (unmittelbar vor dem Mauerfall am 9. November 1989 war sie gerade von einer Dienstreise an das Forschungszentrum Karlsruhe zurückgekommen). Die Enge der DDR-Verhältnisse erlebte sie sicherlich. Für sie selbst gestalteten sie sich allerdings weniger eng als für andere. Zu der von ihr geschilderten Angst vor dem Bespitzelungsapparat des MfS würde man sie gern etwas genauer fragen. Denn für sie stellte die Staatssicherheit nichts Abstraktes dar. Mitarbeiter des Geheimdienstes gehörten zum Freundeskreis der Familie und zu ihrem eigenen Bekanntenkreis. Vor allem aber verdankt sie überhaupt ihren von Anfang an sehr erfolgreichen Einstieg in die Politik 1989 und 1990 zwei prominenten MfS-Agenten.

Angela Merkels Vater Horst Kasner siedelte 1954 von Hamburg in die DDR über, wo er schnell zu den maßgeblichen Funktionären der Berlin-Brandenburgischen Kirche gehörte. Dem DDR-Sozialismus stand er nach allen Zeugnissen von Leuten, die ihn erlebten, sehr viel offener gegenüber als der parlamentarischen Ordnung im Westen. Als Mitglied der „Christlichen Friedenskonferenz“ (CFK) der DDR war Kasner, der selbst nach allen bekannten Quellen nicht für die Staatssicherheit arbeitete, von Inoffiziellen Mitarbeitern des MfS umgeben. Die CFK bestand im Wesentlichen aus staatsloyalen Kirchenfunktionären des Ostblocks, die im Sinne der „Bündnispolitik“ gegen den Westen und die Nato agitierten; gelenkt wurde sie aus Moskau. Den DDR-Regionalausschuss der CFK bezeichnete das MfS in einem internen Dokument als „religiöse Hülle“ für die politisch-operative Arbeit.

Als Leiter des Pastorenkollegs nahm Kasner eine Schlüsselstellung in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg ein. Zu seinen engsten Gesprächspartnern zählten zwei Personen des SED-treuen Kirchenapparats mit bemerkenswerten Biographien, Clemens de Maizière und Wolfgang Schnur – wobei Schnur auch zu den Freunden der Familie Kasner gehörte. Clemens de Maizière (1906–1980) fand zu NS-Zeiten seine politische Heimat in der NSDAP und der SA. Nach 1945 stellte sich der Jurist in den Dienst der neuen Machthaber. Als Synodaler der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg setzte er die von der SED geplante Kirchenpolitik um, nach 1961 trieb er die Abtrennung der Kirche von Westberlin wie gewünscht voran. Der Staatssicherheit arbeitete er unter dem Decknamen „Anwalt“ zu. Schnur, ebenfalls Jurist, führte ein romanreifes Doppelleben. Er gehörte zu den einflussreichsten evangelischen Kirchenfunktionären der DDR und erarbeitete sich einen Ruf als Anwalt von politisch Verfolgten. Von 1965 an bis 1989 arbeitete er als IM „Torsten“ für die Staatssicherheit. Er berichtete über die Dissidenten (einschließlich der Beschaffung von Belastungsmaterial), die er vor Gericht verteidigte.

Was Schnurs Geschichte aus der anderer IM heraushebt, war seine ins Extrem getriebene Persönlichkeitsspaltung. Noch gut vier Wochen vor dem Mauerfall, am 7. Oktober 1989, erhielt er von der Staatssicherheit eine Verdienstmedaille in Gold für seine, wie es in den Akten heißt, „an die Grenzen der physischen Leistungsfähigkeit gehenden Einsatzbereitschaft“. Wenige Wochen nach dem Mauerfall stand er an der Spitze der gerade gegründeten Partei „Demokratischer Aufbruch“, die unter dem sanften Druck von Helmut Kohl mit der DDR-CDU und der ebenfalls neu gegründeten Deutschen Sozialen Union für die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 zur „Allianz für Deutschland“ zusammengefasst wurde.

Schnur traf sich noch kurz vor diesem 18. März mit seinem Führungsoffizier der schon halb in Auflösung befindlichen Staatssicherheit, fast zeitgleich versicherte er seiner Partei an Eides statt, nie für das MfS gearbeitet zu haben. Dieser Neupolitiker und Freund der Familie Kasner stellte Angela Merkel zum 1. Februar 1990 als Parteisprecherin an. Kurz vor der Wahl am 18. März erlitt Schnur einen physischen Zusammenbruch. Als durch Stasi-Leute präzise Details zu seiner Tätigkeit in die Öffentlichkeit gelangt waren, trat er zurück, wenig später wurde er aus der Partei geworfen.

Unter normalen Umständen wäre es ein ernstes Problem gewesen, dass eine leitende Mitarbeiterin von einem Parteichef geholt wurde, der dann ins Bodenlose fiel. Merkel allerdings stieg weiter auf, nachdem der „Demokratische Aufbruch“ von der Ost-CDU aufgesogen wurde. Deren Vorsitzender, der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière, machte sie zur stellvertretenden Regierungssprecherin. Der Sohn von Clemens de Maizière war wie sein Vater Jurist, Kirchenfunktionär und Mitarbeiter der Staatssicherheit, Deckname „Czerni“. Den Bundestagswahlkreis auf Rügen verschaffte ihr der spätere Bundesverkehrsminister Günter Krause, seit 1975 Mitglied und ab 1987 Funktionär der DDR-CDU.

Alles, was Merkel innerhalb kurzer Zeit wurde – Sprecherin, Bundestagsabgeordnete, von dieser Basis aus dann Bundesministerin unter Helmut Kohl –, wurde sie also durch ein Unterstützerumfeld von Geheimdienstmitarbeitern und Blockparteifunktionären. Das heißt nicht, dass sie selbst zu diesem Geflecht gehört haben muss. In ihrem Lebenslauf finden sich zwar lange Aufenthalte in der Sowjetunion, über die so gut wie nichts bekannt ist. Aber weiße Flecken ergeben noch kein Indiz. Nur klappern in ihrer Nationalfeiertagsrede die Textbausteine auffällig über ihre realexistierende Vergangenheit hinweg: Sie lobt die mutigen ostdeutschen Oppositionellen und Demonstranten, zu denen sie nie gehörte, spricht von der abstrakten Erfahrung der Mauer, die sie allerdings nicht am Reisen gehindert hatte, und von dem Bespitzelungsapparat der Staatssicherheit, ohne dieser Formulierung irgendeine persönliche Fußnote anzufügen.

Das klingt ungefähr so, wie wenn sie bei anderen Gelegenheiten über Ludwig Erhard und das Erbe der CDU spricht: Sie referiert über Sachverhalte, mit denen sie persönlich nichts verbindet.

Wann ist die Corona-Pandemie vorbei?

Bei Merkel ist oft die Frage gestellt worden, ob bei ihr so etwas wie ein Persönlichkeitskern existiert. ‚Persönlichkeitskern‘ wirkt bei ihr als Begriff vielleicht zu groß – aber so etwas wie eine politische Herkunft gibt es offenbar doch. Michael Schindhelm, zu DDR-Zeiten Chemiker, nach 1990 Theaterintendant und Autor, beschreibt diese Atmosphäre, über die es bei Merkel – die in ihrer Rede von 2006 ausführlich über ihre Freundschaft zu ihm spricht – allenfalls Andeutungen gibt. Mit Merkel teilte Schindhelm in der Akademie der Wissenschaften das Büro, auch die Begeisterung für Gorbatschows Sowjetunion. Übrigens arbeitete er als IM für die Staatssicherheit, aber nur kurz; er lieferte allerdings nichts Substanzielles und entzog sich dem Zuträgerdienst auch wieder.

In einem ZEIT-Interview sagte Schindhelm 2019 über die Zeit in der Akademie und die Gespräche im kleinen Kreis: „Man hatte nicht das Gefühl, dass die DDR bald untergehen würde. Sondern eher, dass sie in eine Art Phase der Ewigkeit eintritt.“ Er und offenbar auch Merkel gehörten zu einem nicht ganz unbedeutenden Milieu in der DDR, dessen Mitglieder sich über die verbreitete Blümchentapetenspießigkeit im Ostblock amüsierten und die grobschlächtigen Herrschaftsmethoden des Politbüros verachteten, aber nicht die westliche Bürgergesellschaft als Alternative sahen, sondern einen verbesserten, geschickteren Sozialismus, kurz: eine Diktatur der Aufgeklärten und Eingeweihten.

Diese Überzeugung wäre für einen DDR-Bürger von 1989 nicht ehrenrührig. Schon gar nicht gibt es eine moralische Verpflichtung, in einer Diktatur zur Opposition zu gehören. Genau darüber könnte Merkel sprechen. Sie tut es aus Gründen nicht, über die sie ebenfalls nicht redet.

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