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Arroganz statt Offenheit: Es gibt zu wenige Biedenköpfe in der deutschen Politik

Published On: 12. Januar 2022 17:13

Die arroganten Aussagen von Michael Kretschmer und anderen Politikern über die Kritiker der Corona-Politik offenbaren die Unfähigkeit der neuen politischen Klasse zum integrierenden Diskurs. Sein politischer Ziehvater Kurt Biedenkopf war da von ganz anderem Kaliber.

IMAGO / Future Image

Michael Kretschmer beim Trauerstaatsakt zu Ehren des verstorbenen früheren Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf in der Frauenkirche Dresden, 03.09.2021

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer konnte einmal zurecht als ein Hoffnungsträger der CDU und vielleicht der deutschen Politik generell gelten. Sicherlich hatte das auch damit zu tun, dass er eine Art politischer Ziehsohn des letzten CDU-Politikers von intellektuellem Format war, nämlich des früheren sächsischen Ministerpräsidenten und CDU-Generalsekretärs Kurt Biedenkopf, der im August 2021 gestorben ist. Biedenkopf war nicht nur ein Denker (sein Biograf Peter Köpf nannte ihn 1999 „Querdenker“, als das noch ein Kompliment war), sondern auch ein Auf-die-Bürger-Zugeher, ein Politiker, der Gemeinsamkeit suchte und schuf. Das bescherte ihm und der CDU in Sachsen absolute Mehrheiten, von denen seine Nachfolger nur träumen können.

Kretschmer hat sich mit seinen jüngsten Aussagen in der FAZ weit von seinem politischen Ziehvater entfernt. Nicht nur spricht aus seiner Behauptung „Viele dieser Demonstrationen sind auch nicht zu rechtfertigen“ ähnlich wie aus der seines baden-württembergischen Parteifreundes Thomas Strobl über den angeblichen Missbrauch des Demonstrationsrechts ein seltsam illiberales Verständnis von Meinungsfreiheit. Wenn die Menschen für mehr Impfstoff demonstrierten, sei das ein Grund, sagt Kretschmer, aber: „Gegen Schutzmaßnahmen zu sein, die Menschenleben retten, ist keiner“. Da will offenbar ein Ministerpräsident seinen Bürgern gerne sagen, für was sie demonstrieren sollen. Sätze wie „Einen gewissen Teil der Bevölkerung wird man nicht erreichen“ oder eine Formulierung wie „die Politik und der aufgeklärte Teil der Gesellschaft“ – Worte von solcher Arroganz gegenüber den eigenen Bürgern wären Biedenkopf fremd. Dieser Unterschied zwischen einem Biedenkopf (1930-2021) und einem Kretschmer (geb. 1975) bezeichnet vielleicht die generelle Veränderung der politischen Klasse in der bundesrepublikanischen Geschichte.

Zu Biedenkopfs Zeiten – Kohl machte ihn 1973 zum Generalsekretär – nahmen die Parteien gesellschaftliche Bewegungen in ihre politische Programmatik auf – auch wenn es sich um Minderheiten handelte, die dem bisherigen politischen Mainstream entgegen standen. Die 1970er Jahre waren deswegen eine politisch so aufregende Zeit, die eine letzte große Politikergeneration hervorbrachte. Die damalige Stärke und Integrationsfähigkeit der beiden Volksparteien SPD und Union für jeweils mehr als 40 Prozent der Wähler ist nur dadurch zu erklären, dass sie eben nicht Millionen von Bürgern für „nicht mehr erreichbar“ erklärten, sondern selbst auf diese zugingen, ihre Fragen ernst nahmen und zu beantworten suchten.

In den 1970ern gelang es Biedenkopf die „neue soziale Frage“, also die Idee, auch schwach oder gar nicht organisierte gesellschaftliche Gruppen als Partei zu vertreten, etwa Rentner und Alleinstehende, zur Grundlage des kommenden Erfolgs der Kohl-CDU zu machen. Heute stellt sich in noch sehr viel dramatischerer Weise als damals nicht nur eine soziale, sondern eine grundlegende Frage nach dem Zusammenhalt der Menschen in diesem und den anderen westlichen Ländern. Doch eine ergebnisoffene Diskussion darüber findet in den Parteien nicht mehr statt. Man erwartet Gefolgschaft auf dem von der „Politik und dem aufgeklärten Teil er Gesellschaft“ vorgegebenen Weg.

Wo sind die Politiker in allen etablierten Parteien, die sich erinnern, dass es in freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen nicht die Aufgabe der Bürger ist, ihnen oder „der Wissenschaft“ oder dem vermeintlich „aufgeklärten Teil der Bevölkerung“ zu folgen, sondern umgekehrt Politiker die Positionen und Interessen der Bürger akzeptieren, ernst nehmen, repräsentieren und in Politik umsetzen sollen? Wo sind die Politiker, die überhaupt verstehen, dass diese Demonstrationen und generell der unübersehbare Vertrauensverlust einer großen Minderheit der Bürger gegenüber der etablierten Politik sie vor eine Aufgabe stellt? Und zwar keine pädagogische, sondern eine repräsentative!

Bislang drücken sich die meisten regierenden Politiker vor dieser Aufgabe. Sie gehen nicht auf die Unzufriedenen zu, sondern drohen ihnen mit diskursiver Ausbürgerung. Statt ihr Anlegen zu akzeptieren, errichtet man eine „Brandmauer“, wie man das schon gegenüber der AfD praktiziert. Offenbar hält man das für ein Erfolgsmodell.

Die etablierten Parteien und die verheerend radikalisierte AfD haben die Chance verpasst, die neue Partei so zu integrieren, wie Biedenkopf es in einem Gespräch mit mir 2018 noch für selbstverständlich hielt („In einer kooperativen Demokratie wie der unseren ist das kaum anders denkbar. Man sitzt zusammen im Parlament, hört sich zusammen die guten und die schlechten Reden an, und geht dann raus zum Kaffee und redet dort mit den Bekannten und den Neuen“). Damit hatte er Unrecht, aber mit seiner Feststellung, die AfD werde „nicht verschwinden, weil die Fragen, die sie jetzt stellt, Fragen sind, die sich jetzt tatsächlich stellen“, hatte er Recht. Dass sich die AfD durch teilweise unwürdiges Benehmen und fortgesetzte verbale Entgleisungen selbst diskreditierte, ändert nichts an dem fortgesetzten Versäumnis der anderen Parteien, ihr eine Chance auf Normalität zu geben und auf die politischen Bedürfnisse der Millionen AfD-Wähler einzugehen. Das Ergebnis ist eine Schneise mitten durch den Bundestag, die ehrliche, sachorientierte Debatten im Bundestag verhindert und damit die politische Kultur in Deutschland zerstört.

Wie viele solcher Mauern der Verständnislosigkeit verträgt eine Gesellschaft? Nach der Migrationskrise von 2015, die übrigens mit nur oberflächlich geminderter Dramatik und voller Billigung der neuen Bundesregierung weitergeht, hat die Coronakrise nun schon die zweite große Spaltung innerhalb weniger Jahre hinterlassen. In jenem „aufgeklärten Teil er Gesellschaft“ redet man sich gerne ein, es sei ein und dieselbe Brandmauer „gegen rechts“. Aber das stimmt nicht. Die Demonstrationsbewegung ist eben gerade nicht deckungsgleich mit „den Rechten“. Es ist sogar erstaunlich, wie wenig politischen Profit die AfD oder gar noch radikalere Parteien aus der Corona-Krise ziehen. Bislang hat die neue außerparlamentarische Opposition überhaupt noch keine politisch organisierte Form gefunden.

Aber das muss nicht so bleiben. Und vor allem: Es könnten schon bald neben der Corona-Politik andere Fragen zu ähnlichen Bewegungen führen. Die sozialen Auswirkungen der Klimaschutzpolitik, die grassierende Teuerung und die langfristig absehbare Überforderung des Sozialstaats bieten auf absehbare Zukunft ausreichend weiteren, vielleicht sogar noch explosiveren Konfliktstoff. Will man dann in der politischen Klasse einfach weiter auf das vermeintliche Erfolgsrezept der moralischen Belehrung verbunden mit Exkommunikation der angeblich Unerreichbaren setzen?

Solche Arroganz und Ignoranz wird sich rächen. Die Spaltung der Gesellschaft, die die Corona-Politik hervorgerufen hat, wird nicht einfach irgendwann spurlos verschwinden. Und wenn „die Politik und der aufgeklärte Teil der Gesellschaft“ weiter so verbissen jedes Zugehen auf jene Bürger verweigern, die ihnen widersprechen, wird es künftig bei neuen Krisen noch weitere Brüche durch die Gesellschaft geben. Das wäre verheerend. Es sei denn, es finden sich endlich ein paar mutige, kluge und verantwortungsvolle Männer und Frauen in den regierenden Parteien, die mit offenen Ohren und Augen und ausgestreckten Händen auf ihre Bürger zugehen.

Es gibt zu viele Kretschmers und zu wenige Biedenköpfe, nicht nur in der CDU, sondern in der deutschen Politik generell.

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