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Die Sechzig-Prozent-Demokratie

Published On: 9. Mai 2022 17:00

Für die Gewählten, die Parteifunktionäre, aber auch die berichtenden Journalisten scheint es nicht so wichtig gewesen zu sein, dass bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein fast vierzig Prozent der Wahlberechtigten gar nicht erst mitgewählt haben. 

Am gestrigen Wahlabend in Schleswig-Holstein hatten alle in den Landtag gewählten Parteien – glaubt man ihren Vertretern, die vor Kameras und Mikrofonen auftraten – einen Grund zur Freude. Den konnten selbst die Wahlverlierer von der SPD teilen. Sie freuten sich, dass die AfD an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert und im nächsten Landtag nicht vertreten ist. Nur noch demokratische Parteien seien im Parlament in Kiel vertreten, hieß es allenthalben. Selbst diejenigen, die auch westliche Ableger der SED-Nachfolgepartei nicht für demokratisch halten, konnten mitjubeln, denn die Linke erreichte bekanntlich nicht einmal die Nähe der Fünf-Prozent-Grenze. Alle Landtags-Parteien fanden also einen gemeinsamen Grund zur Freude, und viele Berichterstatter freuten sich mit.

Was die Gewählten, die Parteifunktionäre, aber auch die berichtenden Journalisten hingegen kaum zu berühren schien, war der Umstand, dass fast vierzig Prozent der Wahlberechtigten im Lande gar nicht erst mitgewählt haben. Bei dieser Zahl dürfte sich eigentlich bei Demokraten jegliche Freude verbieten.

Natürlich ist es das gute Recht eines jeden Wahlberechtigten, nicht zur Wahl zu gehen. Ein Problem wird es dann, wenn nicht nur diejenigen fernbleiben, die zur Stimmabgabe zu bequem und zu desinteressiert sind, sondern immer mehr Menschen nicht wählen gehen, weil sie im zur Wahl stehenden Angebot nichts und niemanden finden, dem sie mit ihrer Stimme eine Legitimation zum Mitreden und Mitentscheiden geben wollen.

Lieber Nicht- als Falschwähler

Früher hörte man bei geringer Wahlbeteiligung noch besorgte und mahnende Stimmen. Als die AfD vor Jahren allerdings damit punktete, dass sie offenbar in Größenordnungen unzufriedene Nichtwähler zur Stimmabgabe motivierte, hieß es von manchen Vertretern etablierter Parteien schon mal, dass es besser wäre, nicht zu wählen, als die Falschen zu wählen. Heute redet man über das Nichtwählen scheinbar so gut wie gar nicht mehr.

Wenn keine „falsche“ Partei außerhalb des Jeder-kann-mit-jedem-koalieren-Kosmos im Parlament sitzt, bekümmert es offenbar niemanden mehr, wenn fast vierzig Prozent der potenziellen Wähler keinen Geeigneten mehr zum Wählen finden. Der Gedanke, dass die demokratische Legitimation an sich dabei Schaden nehmen könnte, ist längst vergessen.

Vielleicht ist das auch besser so, denn in den Zeiten, in denen sich Politiker noch Gedanken über geringe Wahlbeteiligungen gemacht haben, warteten sie zuweilen mit merkwürdigen Ideen auf, um dieses Problem zu lösen. Nicht das Angebot, aus dem die Wähler wählen können, sollte verbessert werden, nur für die Faulen und Bequemen könnte man den Akt der Stimmabgabe vielleicht erleichtern.

Frau Fahimi hat die Lösung: Wahlwochen!

Yasmin Fahimi ist dieser Tage zur neuen DGB-Vorsitzenden gewählt worden, quasi direkt aus dem Bundestag an die Gewerkschaftsspitze. Falls Sie sich nicht erinnern können: Die Frau war u.a. auch mal SPD-Generalsekretärin. Und als solche hatte sie im Dezember 2014 im Interview mit der Welt eine ganz spezielle Idee geäußert:

Ich möchte mich nicht abfinden mit einer Wahlbeteiligung von 50 Prozent. Deshalb habe ich ein überparteiliches Bündnis angeregt, um unnötige Hürden bei Wahlen zu beseitigen. Mittlerweile haben alle Parteien, die im Bundestag vertreten sind, positiv darauf reagiert. Anfang des Jahres treffen wir Generalsekretäre uns, um erste Ideen zu diskutieren.

Die Welt: Sie haben vorgeschlagen, im Supermarkt wählen zu lassen…

Fahimi: Klingt ungewohnt, meine ich aber ernst: Ich finde, wir sollten das Wählen an viel mehr öffentlichen Plätzen ermöglichen – in Rathäusern, Bahnhöfen, öffentlichen Bibliotheken. Wir lassen gerade rechtlich prüfen, ob so etwas wie eine fahrende Wahlkabine möglich ist, vergleichbar mit einer mobilen Bücherei in ländlichen Gebieten.

Die Welt: Glauben Sie wirklich, die Wahlbeteiligung sinkt, weil den Bürgern die Gelegenheit zum Wählen fehlt?

Fahimi: Ich sehe zwei Gründe für die sinkende Wahlbeteiligung. Es mag Bürgerinnen und Bürger geben, die sich für Politik nicht interessieren oder enttäuscht sind und deswegen nicht zur Wahl gehen. Diese Menschen erreichen wir natürlich nicht durch solche Vorschläge.

Ich denke aber, dass es genügend Wahlberechtigte gibt, die schlicht aus einer gewissen Bequemlichkeit heraus am Sonntag den Weg ins Wahllokal nicht finden. Darüber kann man lamentieren – oder es ändern. Ich finde, in einer hoch mobilen Gesellschaft wie unserer muss es möglich sein, solche neuen Ideen zu diskutieren. Ich bin dafür, statt eines einzigen Wahltags ganze Wahlwochen wie in Schweden anzupeilen, in denen man seine Stimme abgeben kann – und zwar nicht nur an seinem Wohnort, sondern überall.

Irgendwie wurde bekanntlich nichts daraus, und vielleicht ist es wirklich besser, zu dem Thema zu schweigen, als solche Pläne zu diskutieren. Der DGB kann mit dieser Art von Ideenreichtum sicher mehr anfangen.

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