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Kremp: „Wer sich in den Krieg begibt, bleibt nicht sein Eigentümer“

Published On: 17. Juni 2022 20:00

Krieg ist brutale Gegenwart, beherrscht Politik und unser Leben bis zur Temperatur der Heizung. Was verschwunden und überwunden schien steigt wieder aus den Massengräbern: Der Krieg. Ein grandioses Werk hält Lehren für die Gegenwart bereit.

Mit seinem letzten Werk hat uns der Doyen der deutschen Publizistik, Herbert Kremp erstaunliche historische Einsichten beschert: Lehren, die heute brutale Bedeutung erfahren. Es geht um die Anfänge des zweiten Weltkriegs. Das ist nicht Geschichte. Wieder sind es die „Killing Fields“ der Ukraine, in denen die Armeen aufeinandertreffen – jene Region, in der sich der Angriff von Hitlers Wehrmacht auf die Sowjetunion entfaltet und in der beim Gegenangriff die Rote Armee die Wehrmacht zermalmt hat. Unseren Großvätern waren die Namen geläufig: Der Kampf um den Dnjepr-Übergang, die Schlacht um Charkiw, die Panzerschlacht am Kursker Bogen – was wir verdrängt haben, kehrt zurück. Manchmal schaudert man. Wiederholt sich Geschichte doch?

Thomas Kielinger, seinerseits ein Großer, als es solche noch gab im deutschen Journalismus, bescheinigt Kremp „einen Stil, der so treffend wie aufreizend war, so bildgesättigt wie angriffsfreudig, so nachdenklich wie kampfbereit, belebt von großer historischer Bildung.“

Da ist zunächst der Ansatz. Geschichte wird nicht vom Ende erzählt, in diesem Fall vom 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation der Wehrmacht. Wer diesen Ansatz wählt, sortiert die Fakten und Einsichten auf das Ergebnis hin, in diesem Fall die Niederlage Hitlers. Aber dies Niederlage war nicht ausgemacht. Es gibt keinen unabänderlichen Verlauf der Geschichte. Sie folgte keinem fertigen Drehbuch. Sie entwickelt sich. Und so ist einer der Lehrsätze von Kremp: „Wer sich in den Krieg begibt, bleibt nicht sein Eigentümer“. Es kommt anders, als die großen Strategen es für gewiss hielten.

Wladimir Putin, das wissen wir heute mit annähernd großer Sicherheit, war sich sicher, dass er Kiew in 12 Stunden erobern könne und die Ukraine nach 3 Tagen kapitulieren würde. Davon waren auch westliche Politiker wie Christian Lindner überzeugt, die Waffenlieferungen zu Beginn wegen dieser Aussichtslosigkeit ablehnten. Es ist anders gekommen. Putin ist nicht „Eigentümer“ und Bestimmer des Krieges, er wurde zum Getriebenen. Gewarnt sei aber auch vor der Umkehrung. Auch sein Gegenspieler Selenskyij ist nicht Eigentümer, der den Sieg in der Tasche hat. Das Kriegsglück ist trügerisch und wetterwendisch. Im größten Sieg kann die Niederlage verborgen sein.

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Das ist Kremps Intellektuelle Meisterleistung: Er arbeitet heraus, wie triumphal Hitler Frankreich überrannt hat – und dabei doch das erlebte, was Kremp einen „Strategie-Infarkt“ nennt: Die Wehrmacht zerschlug das britische Heer vor Dünkirchen nicht, wie es möglich gewesen wäre, sondern schaute mehr oder weniger tatenlos zu, wie Winston Churchill die Rettung von 300.000 Mann mit Tausenden Schiffen, Booten und Yachten vollzog. Damit blieb Großbritannien wehrhaft und Hitler wagte nicht den Angriff auf die Kreidefelsen von Dover. Damit war seine Strategie, Großbritannien aus dem Krieg zu nehmen, gescheitert. Und daraus folgte, dass die angelsächsische Welt zum Gegenangriff übergehen würde. In der Stunde des Sieges war Hitlers Niederlage nähergerückt: der von den Deutschen immer gefürchtete und brutalstmöglich geführte und erlittene Zweifrontenkrieg gegen die USA und Großbritannien und die Sowjetunion.

Hitler vollzog einen Strategieschwenk und griff die Sowjetunion an, um diesen Gegner auszuschalten, ehe der Angriff aus dem Westen durch die sich „allmählich auftürmende britisch-amerikanisch Macht-, Militär und Ressourcenallianz“ erfolgen würde. Das war nicht sein ursprünglicher Plan. Analogien drängen sich auf. Weil Kiew nicht fiel und die Ukraine nicht kapitulierte änderte Putin seine Strategie und griff den Süden an. Heute wissen wir nicht, wie diese Schlachten ausgehen werden. Aber es zeigt: „zielbegrenzte Kriegsplanung“ ist nicht möglich. Dabei geht es nicht nur um eine neue Strategie – die neue Strategie beinhaltet Risiken, die ursprünglich nicht vorgesehen waren. Im neuen Krieg ist die Ukraine nicht einfach gefallen, sie kämpft und der Westen hat nach kurzem Schock die neue Realität anerkannt und sich auf Hilfe geeinigt, die im Falle eines Blitz-Sieges gar nicht hätte anrollen können. Es ist ein „Strategie-Infarkt“ mit weitreichenden Folgen auch für den möglichen Sieger:  Russland mag im Donbass sogar siegen – erobert aber eine entvölkerte Ruinenlandschaft und hat Schweden und Finnland in die Nato getrieben – statt sich die Feinde fern zu halten, rücken sie näher, wem immer die rauchende Wüste des Donbass schließlich zufällt.

So entwickelt Kremp eine Art Strategie-Lehre, die den Leser in die Lage versetzt, auch aktuelle Entwicklungen zu erkennen und zu bewerten – jenseits des verwirrenden Propaganda-Geplappers beider Seiten.

Ich muss sagen: Da kommt etwas auf Sie zu! Ein historisches Werk von über 700 Seiten Umfang. Eigentlich genau die richtige Lektüre für den Urlaub. Ist das Thema nicht inzwischen ausreichend behandelt? Nein! MORGEN GRAUEN von Herbert Kremp basiert auf einer umfassenden strategischen Analyse. Der Autor provoziert damit – gedanklich wie stilistisch auf höchstem Niveau – die Korrektur verbreiteter Irrtümer über Ziele und Motive der aufeinander und gegeneinander wirkenden Mächte. Auch deshalb, weil er eine neue, bestechende Perspektive wählt: Er sieht das Handeln der Akteure bestimmt vom konsekutiven Zwang des Kriegs, dem Stalin, Churchill, Mussolini, Roosevelt und Adolf Hitler unterworfen waren.

Manches wiederholt sich – weil Kremp versucht, alle Akteure und ihr Handeln zu analysieren. Die Rolle Jugoslawiens wie der anderen großen und kleinen Mächte, der Ungarn, Polen, Finnen, Schweden. Es ist eine ungeheure Materialfülle, die ausgebreitet wird. Man kann fast beliebig ein Kapital aufschlagen, sagen wir: „Italien“, und schon blättert sich die Geschichte dieses Landes auf. Selbstverständlich auch die Entwicklung innerhalb der Sowjetunion mit einer Fülle von Erkenntnissen, die bis in die Gegenwart wirken.

Faszinierende Einblicke in die Zeitgeschichte bietet auch die Lebensgeschichte des Autors: Herbert Kremp (1928–2020) studierte Philosophie, Geschichte und Staatsrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wo er 1954 bei dem im Nationalsozialismus mit Lehrverbot belegten Kulturphilosophen Alois Dempf mit einer Arbeit über die Kulturtheorie Oswald Spenglers und Arnold Toynbees promovierte. Parallel studierte er Nationalökonomie in Frankfurt und absolvierte ein Volontariat bei der Frankfurter Neuen Presse. 1957 wurde Kremp Redakteur bei der RHEINISCHEN POST (RP), 1959 bei der Berliner Tageszeitung DER TAG, 1961 Korrespondent der RP in Bonn und 1969 ihr Chefredakteur. Zwischen 1969 und 1985 war er dreimal Chefredakteur der Tageszeitung DIE WELT, ab 1985 auch ihr Herausgeber. Er war nächster Berater und Freund Axel Springers.

„Es setzte Kremp öffentlicher Verunglimpfung aus, wenn er als Chefredakteur der Tageszeitung DIE WELT und enger Begleiter Axel Springers in den 70er-Jahren den Glauben an ein freies, wiedervereinigtes Deutschland vertrat gegen ein Meer von Widersachern, die dieses Credo mit Nationalismus verwechselten, was es nie war. Und es ließ ihn, weil er dank exzellenter Kontakte zum Deutschland hinter dem Eisernen Vorhang die Brüchigkeit behaupteter sowjetischer Stabilität wahrnahm, noch lange vor dem Fall der Mauer an der Fiktion solcher »Stabilität« zweifeln“, schreibt Thomas Kielinger in seinem Vorwort zu diesem Buch.

Kremp erhielt zweimal den Theodor-Wolff-Preis und zählte aufgrund seiner Formulierungskraft und seines unverblendeten, illusionslosen Blicks auf alles, womit er befasst war, zu den profiliertesten Vertretern eines im besten Sinne konservativen Journalismus.

Es ist ein faszinierendes, oft auch bedrückende Werk. Aber es ist das Buch dieser, unserer heutigen Zeit.


Herbert Kremp, MORGEN GRAUEN. Von den Anfängen des Zweiten Weltkriegs. Edition Olzog im Lau-Verlag, 712 Seiten, 38,00 €.


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