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Jupiters Aufstieg und Fall: Frankreich nach den Parlamentswahlen

Published On: 23. Juni 2022 19:00

Die instabilen Verhältnisse in Frankreich mit einem geschwächten Präsidenten Emmanuel Macron werden einen weiteren Beitrag zum Niedergang der EU, aber auch Deutschlands selbst leisten.

Frankreich ist ein schwer regierbares, ja fast unregierbares Land, das gilt zumindest seit dem Juli 1789. Sicher, in den letzten zwei Jahrhunderten hat es auch einmal Perioden der relativen Stabilität gegeben, man denke etwa an die Zeit zwischen circa 1890 und 1914, als die Dritte Republik ihre schlimmsten Krisen überwunden hatte. Ein gespaltenes Land war Frankreich freilich auch damals; laizistische Liberale und Linke standen konservativen Katholiken unversöhnlich gegenüber und umgekehrt. Dennoch mögen diese Jahre im Rückblick fast als ein goldenes Zeitalter erscheinen.

Selbst wenn man von der turbulenten Zwischenkriegszeit absieht, erlangte Frankreich die einstige Stabilität nie wieder wirklich zurück. General de Gaulle, der ursprünglich 1958 in Folge eines militärischen Putsches an die Macht gekommen war, gelang es zwar, dem Land eine neue Verfassung zu geben und damit die Fünfte Republik zu begründen. Sein Versuch, durch eine Verbindung von Bonapartismus und Demokratie gestützt auf sein persönliches Charisma den Geist der Revolte, der in Frankreich endemisch ist, zurückzudrängen, war allerdings nur für ca. 10 Jahre lang erfolgreich bis zum Mai 1968. Das von ihm geschaffene Verfassungssystem überlebte diese Explosion zwar, aber de Gaulles Nachfolger waren zunehmend genötigt, durch immer üppigere Leistungen des Wohlfahrtsstaates und „Brot und Spiele“ in jeder Form dafür zu sorgen, dass sich die Ereignisse von 1968 nicht wiederholten. Überdies fiel es seit den 1990er Jahren den französischen Präsidenten zunehmend schwer, der quasi monarchischen Rolle gerecht zu werden, die de Gaulle für sich und seine Nachfolger als Präsidenten geschaffen hatte. Es fehlte ihnen an Charisma und Gravitas. Besonders ausgeprägt waren diese Defizite bei den beiden unmittelbaren Vorgängern von Macron, bei Sarkozy und Hollande.

Das erklärt, warum Macron einen radikalen Neuanfang versuchte, als er vor fünf Jahren zum Präsidenten gewählt wurde: Er kehrte zu dem von de Gaulle geschaffenen Modell zurück: eine imperiale Präsidentschaft mit viel pathetischer Rhetorik, einem gewissen Personenkult gar und weit über dem Alltagsgeschäft der Parteienpolitik stehend. So wie Jupiter vom Olymp auf Menschen und Halbgötter herabsah, so betrachtete Macron die einfachen Sterblichen und wohl auch seine Partner in der EU, und gab sich auch keinerlei Mühe, das zu verbergen. Ja innenpolitisch ging Macron noch weiter: um die Basis für eine Regierung der Mitte zu schaffen, unterminierte er durch seine persönliche Sammlungsbewegung die traditionellen linken und rechten Parteien. Ein Schachzug, der zunächst ein voller Erfolg war und ihm im Parlament vor fünf Jahren eine überwältigende Mehrheit bescherte. 

Dieses Mal wurde ihm jedoch die Rechnung für diese Zerstörung des traditionellen Parteiensystems, die er aktiv durch eine Art Bonapartismus der Mitte betrieb, präsentiert: Die noch leidlich pragmatischen Sozialisten alter Schule sind verschwunden, an ihre Stelle ist der Demagoge Mélenchon getreten, der den Franzosen das Paradies auf Erden verspricht, wenn sie nur den Kampf gegen Brüssel, die verhassten Deutschen und die Bourgeoisie aufnehmen. Auf der Rechten hingegen dominiert nun Le Pen mit dem Rassemblement National, das erstmals eine der stärksten Fraktionen im Parlament stellt. Bislang gab es immer einen republikanischen Pakt, der mit Hilfe des Mehrheitswahlrechts dafür sorgte, dass die Wähler des Front National (Vorläufer des RN) kaum im Parlament repräsentiert waren. Von daher kann man in der jetzigen Entwicklung auch eine überfällige Normalisierung sehen. Allerdings: Hätte Frankreich ein Verhältniswahlrecht, dann würden die Parteien der radikalen Rechten und Linken im Parlament zusammen wohl sogar eine Mehrheit der Sitze beanspruchen können ähnlich wie in der Endphase der Weimarer Republik, falls man annähme, dass unter einem solchen Wahlrecht das Wählerverhalten das gleiche wäre, was natürlich nicht ganz unproblematisch ist, nicht zuletzt mit Blick auf die sensationell niedrige Wahlbeteiligung.

Was bedeutet das alles für Frankreich und Europa? 

Macron versuchte immer zwischen den politischen Lagern zu lavieren, was ihm den Beinamen „Monsieur en même temps“, „Herr einerseits – andererseits“ eintrug. An einem Tag konnte er erklären, eine genuin französische Kultur gäbe es gar nicht und trat für den Multikulturalismus ein, am nächsten Tag betonte er dann wieder die Wichtigkeit des Nationalstolzes und verteidigte die Denkmäler, die den französischen Kolonialismus verherrlichten. Das haben ihm die Wähler offenbar nicht abgenommen, zumal er persönlich auf sie anders als auf seine zahlreichen deutschen Jünger oft abgehoben und arrogant wirkt, eben der typische Vertreter einer kleinen, vom Rest der Bevölkerung, jedenfalls den Ärmeren und weniger Privilegierten, mit Abneigung betrachteten Elite.

Noch schlechter aber kam ganz offenbar seine überbordende Europarhetorik an. Macrons Vision eines „souveränen“ Europa als globale, imperiale Großmacht verfing nicht. Die Mehrheit der Franzosen will ganz eindeutig am Nationalstaat festhalten, und die Jüngeren wohl noch mehr als die Älteren, die sich eher bereit fanden, Macron zu wählen. Selbst ein von Frankreich geführtes und stark von Deutschland finanziertes Europa – das ist ja faktisch Macrons Vision – vermag sie nicht zu locken.  In dieser Hinsicht ist das Wahlresultat an Eindeutigkeit nicht zu überbieten, und diese Haltung ist angesichts des postdemokratischen Charakters der EU und ihrer vielen Defizite auch gut nachvollziehbar. In Brüssel wird das freilich niemanden stören. Man wird dennoch eisern am Kurs „Mehr Europa ist für alles die Lösung“ festhalten. Auf demokratische Legitimation war die EU noch nie so richtig angewiesen.

In Frankreich selbst ist die emphatische Ablehnung von Reformen des Sozialstaates durch die Mehrheit der Bevölkerung, die in diesem Wahlergebnis klar zum Ausdruck kommt, allerdings problematisch. Offenbar sind die Franzosen mehrheitlich überzeugt, dass man immer höhere Steuern – natürlich nur für die „Reichen“, also die anderen – erheben und immer mehr Schulden machen kann, ohne dass das ein Problem darstellt. Hier mag die Hoffnung mitschwingen, dass am Ende Deutschland die Schulden zumindest teilweise übernimmt oder die EZB sie wegmonetarisiert, was freilich dann zu höherer Inflation führt, die die Franzosen durchaus als Bedrohung ansehen.

Es rächt sich jetzt offenbar, dass in Frankreich die Regierungen der Bevölkerung seit Jahrzehnten suggeriert haben, der Staat könne sich um alles kümmern und fast jedem ein gutes Leben garantieren, ohne dass das wirklich etwas kostet. Macron, man muss es zugeben, wollte mit dieser Tradition zu Beginn seiner ersten Amtszeit brechen. Weit gekommen ist er damit nicht, vielmehr ist er so wie fast alle seiner Vorgänger gescheitert. Das muss man ihm nicht unbedingt anlasten, denn offenbar sind vernünftige ökonomische Argumente den Franzosen grundsätzlich nicht zu vermitteln. Sehr geschickt hat er sich freilich auch nicht immer angestellt. So war die Erhöhung der Benzinsteuern, die die Gelbwestenproteste 2018/19 auslöste, zu einem Zeitpunkt, als ganz andere wichtige Maßnahmen zur Debatte standen wie die Rentenreform, sicher eine Fehlentscheidung.

Es wäre aber falsch anzunehmen, dass Macron jetzt ein vollständig gelähmter Präsident wäre. Für eine Reihe von Gesetzgebungsvorhaben wird er durch eine Zusammenarbeit mit den Republikanern oder den Grünen wohl doch eine Mehrheit im Parlament finden und außenpolitisch braucht er das Parlament nicht. Der zur Zeit diskutierte Plan, eine parteiübergreifende „Regierung der nationalen Einheit“ zu bilden wie im 1. Weltkrieg oder 1944 erscheint hingegen wenig aussichtsreich. Somit kann Macron die große Rentenreform, die am Widerstand der Straße wohl ohnehin scheitern würde, jetzt vermutlich endgültig abschreiben und ähnlich kontroverse Maßnahmen, die den Wohlfahrtsstaat betreffen, auch.

Welche Auswirkungen hat die Situation in Frankreich auf Deutschland?

Als Macron sein Amt vor fünf Jahren antrat, wurde er in Deutschland von den Medien als ein wahrer Heilsbringer gefeiert. Journalistinnen namentlich des ÖRR übertrafen sich geradezu in Liebeserklärungen an den großen Mann. Gerade seine Reden zur Europapolitik, bei denen es natürlich immer auch darum ging, Deutschland kräftig zur Kasse zu bitten, stießen bei uns auf breiten Beifall. Endlich ein Franzose, der die Deutschen von ihrem ungeliebten Nationalstaat und überhaupt von ihrer residualen nationalen Identität befreien würde, was Napoleon – ein anderer großer Europäer – mit dem Rheinbund leider nicht so richtig gelungen war.

Klar ist, dass Macron seine Pläne für eine umfassende europäische Schuldenunion jetzt noch energischer betreiben wird. Es ist eigentlich die einzige Option, die er hat, denn die Staatsausgaben in Frankreich zu beschränken, das wird ihm nicht gelingen, und die Ausgaben dort und im Rest der Eurozone immer mehr über die Druckerpresse zu finanzieren, wie bisher, dürfte auf Dauer zu riskant werden wegen der inflationären Folgen. Es könnte die Märkte wohl auch nicht auf Dauer beruhigen, wie sich jetzt schon andeutet, jedenfalls mit Blick auf Italien. Gemeinsam ausgegebene Anleihen der Eurozone oder der gesamten EU würden zwar heute auch höhere Zinsen bieten müssen als vor zwei Jahren, aber eben doch keine so hohen wie z. B. italienische Anleihen, zumindest für die unmittelbare Zukunft und solange die Märkte Deutschland noch für zahlungsfähig halten, also vielleicht für die nächsten zehn Jahre – und weiter denkt kein einziger Politiker, weder in Paris noch in Berlin und in Brüssel erst recht nicht. 

Ein solcher Vorstoß Macrons wird, das ist jetzt schon sicher, in den Medien bei uns viel Beifall finden. Das Argument wird sein, Deutschland profitiere am meisten von der EU, darum müsse es auch besonders große Opfer bringen, um sie zu stabilisieren. Im Spiegel war ein entsprechender Artikel schon zu lesen. Habeck und Scholz werden rasch nachgeben, Lindner wird ein Rückzugsgefecht kämpfen, aber am Ende wohl doch die weiße Fahne hissen, das ist zumindest relativ wahrscheinlich.

Nun könnten auch Eurobonds – die die EZB durch die Hintertür eigentlich ohnehin schon eingeführt hat –  in der Theorie funktionieren, die Voraussetzung dafür wäre aber, dass die einzelnen Mitgliedsländer der Eurozone sich fiskalpolitisch und sozialpolitisch an gemeinsame strikte Regeln halten. Das war in der Vergangenheit nie der Fall, und die französischen Wähler haben ja nun soeben mit klarer Mehrheit gezeigt, dass sie nicht bereit sind, sich in dieser Weise „fremdbestimmen“ zu lassen; in Italien und anderswo dürfte es im Übrigen keineswegs anders aussehen, das zeigt sich täglich. Deutschland würde also gesamtschuldnerisch die Haftung für die Schulden anderer Länder übernehmen, ohne irgendeinen Einfluss auf deren Finanzpolitik zu haben oder auf der Einhaltung von Regeln bestehen zu können. Das ist ein Horroszenario, aber es spricht alles dafür, dass es eintreten wird, weil für Macron die Vollendung seines Projektes einer Schuldenunion in der Eurozone faktisch den einzigen Ausweg darstellt, nachdem er als Reformpräsident in Frankreich selbst gescheitert ist.

Die Aussichten für die Zukunft sind aber noch schlechter. Denn es stellt sich natürlich die Frage, wie die politische Landschaft Frankreichs in fünf Jahren aussehen wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass die eher amorphe politische Bewegung, auf die sich Macron bei den Wahlen gestützt hat, nach seinem Abgang als Präsident zerfallen wird, ist recht hoch und dann könnte die Stunde der Flügelparteien kommen, der Linkssozialisten à la Mélenchon, oder eben auch des RN unter Marine Le Pen, die im Zweifelsfall wohl sogar die besseren Karten hätte. Mit einem Frankreich unter der Regie von Le Pen oder eines radikalen Jakobiners und linken Chauvinisten könnte Deutschland dann erst recht nicht mehr zusammenarbeiten. Aber wir sollten nicht den Fehler machen, zu glauben, dass man diese Gefahr durch besonders große finanzielle und wirtschaftliche Zugeständnisse von deutscher Seite abwenden könne. Das weckt nur neue Begehrlichkeiten, das sieht man ja auch in Italien. Und am Ende wird alles, was wir finanziell bieten, doch immer viel zu wenig sein.

Damit ist Deutschland in Europa und der westlichen Welt allerdings zunehmend isoliert, denn die russlandfreundliche Politik der letzten 15 Jahre hat uns ohnehin zum Außenseiter werden lassen, der auch in Washington und London scheel angesehen wird, und in Ostmitteuropa natürlich erst recht. Auf diese Weise werden die instabilen Verhältnisse in Frankreich dann in der Tat einen weiteren starken Beitrag zum Niedergang der EU, aber auch Deutschlands selbst leisten, das ist fast unvermeidlich, vor allem dann, wenn Deutschland weiter so komplett planlos und ohne jede längerfristige Strategie agiert wie unter der ewigen Kanzlerin Merkel.

Aber sollen wir wirklich glauben, dass das unter einen Olaf Scholz besser wird? Dafür spricht leider sehr wenig, obwohl es in Deutschland in früheren Jahrzehnten eher SPD-Kanzler waren, die harte, strategisch wichtige Entscheidungen durchsetztem und nicht die ewigen Taktierer von der CDU, wenn man von den Anfangsjahren der Bundesrepublik einmal absieht. Aber darauf hoffen wir diesmal wohl vergebens, zumal sich Scholz in europapolitischen Fragen bislang vor allem durch Naivität ausgezeichnet hat, von den Grünen ganz zu schweigen.

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