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Die deutsche Lust am Kampf gegen Melnyk

Published On: 3. Juli 2022 11:43

Endlich, der Befreiungsschlag: Der lästige ukrainische Botschafter kann moralisch in die Defensive gedrängt werden. Die gefeierte „Erinnerungskultur“ wirkt. Geschichte ist ein Steinbruch, aus dem die Wurfgeschosse der Gegenwart gewonnen werden.

IMAGO / Christian Spicker

Andrij Melnyk hat sich in Deutschland für manche als neues Feindbild etabliert: Als undankbare Nervensäge, die die deutsche pro-ukrainische Scheinidylle einfach nicht akzeptieren will. Der freche Sachen sagt zur Bundesregierung. Der Wörter benutzt, die der unkritische Journalismus nicht verwendet, wenn es um die Ampel geht. Der Botschafter der Ukraine in Deutschland will einfach keinen Applaus spenden, wenn Steinmeier & Co. wieder in ihren „großen Reden“ die angeblich unverbrüchliche Solidarität Deutschlands beschwören – er will einfach nicht brav nicken, wenn auf Galas wieder festgeredet wird und doch kaum Taten folgen. Sein Versuch, die hübsche blau-gelbe Fassade vorgetäuschter Solidarität abzureißen, um die Wahrheit zu zeigen, gefällt vielen hier so gar nicht. Das würde nämlich offenbaren, dass Deutschlands Regierungen viel zu sehr damit beschäftigt waren, Trump wegen seiner angeblichen Russland-Verstrickungen zu jagen, als dass sie wirklich etwas über Putins freimütig dargestellte Eroberungspläne nachgedacht hätten. Er hält der SPD den Spiegel vor mit ihrem Ex-Kanzler, den sie verharmlosend „Gas-Gerd“ nennen, der aber die Voraussetzungen für den Überfall mitgeschaffen hat. Trotz Warnungen. Trotz Ansage von Putin. Und man hat das Lachen in Erinnerung, mit der Merkels Außenminister Maas diese Tatsache versucht hat, lächerlich erscheinen zu lassen.

Opfer zu sein, gilt als das Größte

Andrij Melnyk steht für die Ukraine als Ganzes: ein Opfer, das sich wehren will, um kein Opfer mehr zu sein. Das kann oder will man in Deutschland nicht verstehen. Opfer zu sein gilt doch hierzulande schließlich als das Größte. Opfer werden gefeiert. Aber die Ukraine ist im Strudel nicht damit beschäftigt, eine schöne Figur zu machen, sondern zu paddeln. Wie unelegant.

In Deutschland machte diese alteingesessene Geisteshaltung eigentlich gerade mal für ein paar Monate Pause – zwangsweise. Denn gefühliger Pseudo-Pazifismus war nach dem russischen Einmarsch nicht mehr zeitgemäß. Aber die Phase scheint überwunden. Jetzt geht es wieder los. Endlich haben sie ihn, den Melnyk, die Nervensäge. Das Leid der Bevölkerung unter dem russischen Bombenhagel ansehen zu müssen, das kotzt uns an. Sollen sie doch kapitulieren! Die Bilder zerstörter Städte sind ja unzumutbar für Dichter und Denker. Die neue Fernbedienung heißt „Verhandlungen“. Drück drauf und das hässliche Bild ist weg. Warum drücken die Ukrainer nicht einfach?

Um Melnyk dranzukriegen, dafür braucht es schon einen 20-minütigen Geschichtsexkurs bei „Jung und Naiv“ mit dem perfekten Thema für die maximale Kontroverse: Stepan Bandera. Andrij Melnyk windet sich um eine Distanzierung von jenem ukrainischen Kämpfer, der wohl eine der zwielichtigen und ambivalentesten Figuren der jüngeren Geschichte ist: Nazi-Kollaborateur und KZ-Häftling, ukrainischer Freiheitskämpfer und Antisemit, Anführer einer Miliz, die die ethnische Säuberung der Ukraine anstrebte, und Gegner von Stalin und Hitler. 

Melnyk macht in der Sendung eine fragwürdige Figur. Und dafür wird er in den sozialen Netzwerken gegrillt. Die Sprecherin der Bundesregierung weist süffisant auf das Video hin: „Sehenswert“. Die späte Rache einer Bundesregierung, die Melnyk oft genug vor sich hergetrieben hat. Es zeigt auch, auf wessen Seite sie innerlich weiter steht, auch wenn Gas-Gerd kurz weg ist. „Ausweisen“ brüllt man in einem Land, das ansonsten hunderttausende Ausgewiesene lebenslang weiter unterhält. Endlich ein Zeichen setzen!

Die journalistische Methode Jung

Fragwürdig ist aber auch das Spiel, das Moderator Tilo Jung hier spielt und das diese Szenen erzeugt hat. In einer unnachahmlichen Weise baut Jung darin ein Konstrukt aus Verallgemeinerungen und geschickten Verdrehungen auf. So fragt er etwa: „Du erkennst doch auch an, dass Bandera mit seinen Leuten an der Ermordung von 800.000 Juden beteiligt war?“ Jung schiebt hinterher: „Das ist zweifellos.“ Melnyk entgegnet nur, dafür gäbe es keine Beweise. Das wirkt, als sei Melnyk ein Realitätsverweigerer. Aber wer hat Recht? Wenigstens etwas? 

800.000 entspricht in etwa der Zahl der insgesamt während des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine ermordeten Juden – und zwar sowohl von ukrainischen Milizen als auch in der Hauptsache von deutschen Verbänden. Es stimmt, dass Anhänger Banderas mordeten. Und es stimmt, dass Bandera dafür Stimmung machte. Die Politik von Banderas OUN war extremistisch, rassistisch und antisemitisch; kein mögliches Vorbild. Seine eigene konkrete Mitwirkung an den Morden ist allerdings umstritten, er saß schon seit Juli 1941, also kurz nach Beginn des deutschen Überfalls und der Mordaktionen gegen die ukrainischen Juden, im KZ Sachsenhausen ein, von den Nazis inhaftiert. Jung breitet hier immer wieder aus, dass Bandera ja „Ehrenhäftling“ gewesen sei. Dass er ein Bett und einen Teppich hatte, soll die Tatsache der Inhaftierungen Verfolgung anscheinend irgendwie wettmachen. Er eignet sich kaum als Nationalheld, auch angesichts der Tatsache, dass die Ukraine nacheinander und gleichzeitig das Schlachtfeld von zwei Weltkriegen, Blutbank der Oktoberrevolution, Opfer von Bolschewismus, Nationalsozialismus war, das „Killing Field“ Europas, im Konflikt auch mit seinen Nachbarn, die ihrerseits Opfer waren. 

Jung dreht weiter: Bandera habe „befohlen, 100.000 Zivilisten umzubringen“. Auch das ist fragwürdig, zumindest ab der Zeit von Banderas Haft. Als Melnyk darauf hinweist, meint Jung, es gehe ja um das Gedankengut. Aber zwischen einem Befehl zum Massenmord und antisemitischen Aussagen in der Vergangenheit besteht doch noch ein wesentlicher Unterschied.

Jung meint, Bandera „wollte einen transnationalen Faschismus“. Was soll das sein? Es gab Faschismus in etlichen Ländern, ein transnationales Phänomen. Aber keine transnationale, gemeinsam Grenzen überschreitende Bewegung. Egal. So genau muss man Geschichte nicht kennen, wenn nur das Wort Faschismus darin vorkommt. Melnyk widerspricht. Auf mehrmaliges Nachhaken von Melnyk rudert Jung dann zurück: „Er hat sich natürlich nicht selbst als Faschist bezeichnet“. Das sei die Ansicht von Historikern, die er nicht näher benennt. Genau so klang es aber. Geschichte als Steinbruch.

Eine diplomatische Niederlage

Und obwohl Jung 20 Minuten seiner Sendezeit für die historisch komplexe Debatte um Bandera aufwendet, kommt er der mehrmaligen Bitte Melnyks nicht nach, die einzelnen Vorwürfe konkret zu diskutieren. Immer wieder fordert Melnyk: „Der Reihe nach“. Als Jung immer wieder seine insinuierenden Fragen wiederholt, meint Melnyk schließlich genervt: „Ich werde dir heute nicht sagen, dass ich mich davon distanziere“. Natürlich geistert dann nur dieser Ausschnitt durchs Netz, durch den der Eindruck entsteht: Melnyk distanziere sich nicht vom Mord an hunderttausenden Juden.

Auch zu Putins Propaganda-Sender Russia Today schafft es die Sequenz. Damit gelingt es Tilo Jung gar noch, diplomatische Spannungen zwischen Polen und der Ukraine auszulösen, denn viele Opfer waren Polen, schon wegen des Hitler-Stalin-Pakts und des gemeinsamen Überfalls auf dieses Land. 1943/44 war der militärische Arm der OUN für Massaker an bis zu 100.000 in Ostgalizien und Wolhynien lebenden Polen verantwortlich. Trotzdem steht heute Polen hinter der Ukraine. Das Außenministerium der Ukraine geht auf Distanz zu Melnyk. Das ist peinlich für Melnyk – er hat gegen das oberste Gebot der Diplomatie verstoßen: sich rauszureden. Er hat sich reingeredet und damit die auf Unterstützung angewiesene Ukraine. Das darf nicht passieren. Auch Israel protestiert: „Die Aussagen des ukrainischen Botschafters sind eine Verzerrung der historischen Tatsachen, eine Verharmlosung des Holocausts und eine Beleidigung derer, die von Bandera und seinen Leuten ermordet wurden“. Das Wort hat Gewicht. 

Immerhin: Diplomatische Spannungen mit einem kleinen Interview auszulösen, ist eine journalistische Leistung von Tilo Jung. Auch wenn der Nutzen hier wohl eher fraglich ist. Soviel zur Güte.

Das Interview insgesamt aber ist gespeist von jenem Geist, der das Verhältnis Deutschlands gegenüber der Ukraine schon seit Jahren bestimmt: Historisches Unwissen kombiniert mit aktivem Unwillen, dieses Land zu verstehen. Die Ukraine hat eine lange und düstere Geschichte des Judenhasses, der in der Zarenzeit in blutigen Pogromen und schließlich in der Teilnahme ukrainischer Kollaborateure am Holocaust gipfelte. Zur Geschichte der Ukraine gehört auch, dass nur wenige Jahre vor dem Einmarsch der Wehrmacht drei bis sieben Millionen Ukrainer im Zuge des Holodomor-Genozids, also einer vom Sowjet-Regime in Moskau bewusst hervorgerufenen Hungersnot, ermordet wurden. Das weiß in Deutschland kaum jemand. Dass viele Ukrainer nach dieser mörderischen Erfahrung 1941 die deutschen Eroberer zumindest kurzzeitig als geringeres Übel gegenüber Stalin und den Bolschewiki betrachteten – eine Hoffnung, die die meisten Ukrainer angesichts der menschenverachtenden Besatzungsherrschaft bald aufgaben – gehört zu der Tragödie der Ukraine.

Jung demonstriert dieses deutsche Unwissen gegenüber der ukrainischen Geschichte in einem Satz, in dem er die Herkunft eines antisemitischen Flugblatts erläuterte: „Als die Deutschen gerade einmarschiert sind, da haben sie die quasi an die Bevölkerung verteilt, die ja noch unter [Pause] …öhhhh… anderer Herrschaft waren“. Als ob die Tatsache, dass die Ukraine unter sowjetischer Gewaltherrschaft stand und litt, bevor die Deutschen kamen, nichts zur Sache tue. Sowjet ist gut. Stalin ein Held. Massenmord durch Nicht-Benennen verziehen. Deutschland liebt das Schwarz-Weiß-Urteil in der Geschichte, was das Bild verkompliziert, wird weggelassen beim Bestreben, die Geschichte umzuschreiben und umzudeuten.

Interessant ist auch der Vergleich mit früheren Gesprächen von Jung, etwa mit den Führern der antisemitischen Terror-Organisation Hamas oder mit Ahed Tamimi, die 2017 israelische Soldaten angriff und die 2018 von Jung als „Teenie-Ikone“ und „Friedensaktivistin“ angepriesen wurde. Die kritischen Nachfragen bleiben hier hinter denen im Melnyk-Gespräch zurück.

Die Aussagen Melnyks, seine Nichtdistanzierung zu Bandera sind kritikwürdig; der sonst so wortgewaltige Botschafter hat die falschen Botschaften und deren Interpretation zugelassen. Aber dass ausgerechnet das gegenwärtige Deutschland hier ein Exempel der Erinnerungskultur statuieren will, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Es ist eine lang trainierte deutsche Praxis, die Erinnerungskultur immer so einzusetzen, dass es gelingt, die Opfer von heute zu diskreditieren und das Deutschland von heute moralisch zu erheben. Es ist der Befreiungsschlag gegen die Nervensäge Melnyk, der jenes Deutschland immer wieder bloßstellte, das die Ukraine vielleicht zu lange im Regen stehen gelassen hat, während es Moral über Windräder definierte. Irgendwie klemmt die Fernbedienung.

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