wegen-„schlechter-wissenschaft“?-–-unmut-bei-us-gesundheitsbehoerdenWegen „schlechter Wissenschaft“? – Unmut bei US-Gesundheitsbehörden
sieben-fragen-eines-pfarrers-an-seine-ekd-ratsvorsitzendeSieben Fragen eines Pfarrers an seine EKD-Ratsvorsitzende
die-angst-vor-dem-leben

Die Angst vor dem Leben

Published On: 16. Juli 2022 19:03

„Der Sturm auf die Sprache gilt in der Gendertheorie als eine der zentralen Offensiven auf die Gesellschaft zum Zwecke ihrer radikalen Umgestaltung, die gern Emanzipation genannt wird“, so Klaus-Rüdiger Mai. Nach dem Angriff auf unsere Sprache und Kultur von höchster Ebene Grund genug, einen Text zu bringen, der aus einer Zeit stammt, als noch über Genderfragen gestritten wurde.

Im Jahr 2018 fragte mich das Studienzentrum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für Genderfragen, ob ich an einem Band unter dem Titel „Gender im Disput“ mitwirken würde. Da mir das vorbildliche Konzept des Bandes gefiel, habe ich zugestimmt. In jeweils einem Kapitel sollten zwei Autoren aus unterschiedlicher Sicht und durchaus im Dissens eine Frage beantworten. Anschließend würden beide Autoren den Text des jeweils anderen lesen und darauf eine Replik verfassen.

Ruben Zimmermann und ich eröffneten den Band. Die etwas harmlos klingende Frage „Ermöglicht eine gendersensible Betrachtung biblischer Texte Einsichten, die für die kirchliche Praxis von Bedeutung sind?“ bekam dann eine Brisanz, weil sich aus meiner Sicht die Frage nur beantworten ließ, wenn man untersuchen würde, ob Gendern erstens sinnvoll ist und zweitens Einsichten ermöglicht. Ich hatte auf Grund der philosophischen und linguistischen Klärung der Grundlagen des Genderns beide Fragen verneint.

Weil Deutschland sich rasant in ein Gender-Schilda verwandelt, inzwischen der Angriff auf unsere Sprache und unsere Kultur sogar von höchster Ebene erfolgt, habe ich die Redaktion darum gebeten, aus aktuellem Anlass diesen älteren und noch dazu sehr langen Text zu bringen, wofür ich mich sehr herzlich bedanke. Im Übrigen könnte der Text auch für die unerschrockenen Helden des Genderns nützlich sein, weil sich mir der Verdacht regt, dass sie ihre eigenen Grundlagen nicht kennen.

„Faszinierend war, dass das in der Linguistik ging, also trieben wir alle ein wenig Linguistik.“ (Joelle Proust)

Voraussetzungen

Die Beantwortung der Frage, ob eine gendersensible Betrachtung von biblischen Texten zu praxistauglichen Einsichten führen kann, erfordert zunächst die Klärung eines ganzen Bündels von Voraussetzungen, weil man wissen muss, wovon man redet, bevor man darüber redet, denn es handelt sich in Wahrheit um komplexe Fragen der Historizität, der Textrezeption, der Linguistik, der Gesellschaftstheorie und der Philosophie. Hinter der Einführung possierlicher Gendersternchen oder der Tilgung inzwischen sanktionierter Begriffe oder der Hinzusetzung von Frauen im Bibeltext beispielsweise, wo bisher nur Männer standen, steht ein Konzept zur weitgehenden Umgestaltung der Gesellschaft. Wer christliche Texte gendersensibel betrachtet oder christliche Texte wie die Bücher der Bibel gendert, transportiert damit eine Ideologie, deren Konsequenz zu verdeutlichen ist.

Auch biblische Texte sind letztlich Texte und stehen mithin der Analyse, der Interpretation, dem Verstehen offen. Eine entscheidende Rolle spielt die Definition, was unter einem Text verstanden wird und welche Funktion er besitzt.

Einen Text zu betrachten, bedeutet auf der ersten Ebene, seine optische Gestalt wahrzunehmen und kann sich demzufolge nur auf die Perzeption seines Druck- oder Schriftbildes beziehen. Doch dieser Aspekt spielt in diesem Zusammenhang nur eine nebensächliche Rolle und kann daher vernachlässigt werden. Betrachten steht in dieser Fragestellung für Analysieren oder Verstehen. Dem Analysieren oder Verstehen werden spezifische Voraussetzungen vorgeschaltet, die man als gendersensibel zusammenfasst. Sinnvoll kann deshalb nur gefragt werden, ob eine gendersensible Analyse, Interpretation oder in hermeneutischer Perspektive ein gendersensibles Bemühen um das Verstehen des Textes denkbar und begründbar ist.

Da es nicht um die optische Gestalt biblischer Texte, nicht um Fragen der Graphematologie und der Typographie geht, sondern um die Erfordernisse der Rezeption, der Wirkung und der Semantik, meint der harmlos-freundliche Terminus gendersensible Betrachtung im Grunde die Anwendbarkeit gendersensibler Dekonstruktion auf biblische, aber genaugenommen auf Texte jedweder Art. Der Fakt, dass in der Bibel unterschiedliche Textsorten verschiedenen Alters vorliegen, soll einstweilen ignoriert werden, obwohl sich an dieser Stelle die eigentliche Herausforderung verbirgt.

Da Gendersensibilität als regierendes Attribut die Art und Weise der Analyse, Interpretation oder des Verstehens festlegt, denn es handelt sich um eine Hierarchisierung der Textrezeption, die Aspekte hervorhebt und andere vernachlässigt, muss zunächst geklärt werden, was unter Gendersensibilität zu verstehen ist. Weder erklärt sich der Begriff selbst, noch steht von vornherein fest, dass Gendersensibilität überhaupt die Ebene der Begrifflichkeit erreicht. Letztendlich weist er daraufhin, dass Postulate der Genderideologie, im weiteren als Genderismus, als Rezeptionsvorgaben gesetzt werden.

Grundsätzlich verfälscht die Einführung von Rezeptionsvorgaben jedweder Art den Text, weil sie ihn reduziert, ihm den Reichtum nimmt, mehr noch, die möglichen Welten, die ein Text eröffnet, ignoriert und stattdessen nur noch das Hinterzimmer einer Ideologie zulässt. Außerdem löst sie den Text aus seiner Historizität, die seiner Struktur eingeschrieben sind. Ein unter Rezeptionsvorgaben gelesener oder analysierter Text ist bereits ein anderer Text. Die Todsünde im Umgang mit Texten lautet, in den Text wird etwas hineingelesen, der Text verliert seinen Eigenwert und wird zum Mittel des Zwecks transformiert.

Die Rezeptionsvorgabe, nach der im Essay gefragt wird, resultiert aus der Gendertheorie. Zu ihren Regularien zählen Kategorien wie „gerechte Sprache“, „gegenderte Sprache“, „einfache Sprache“, überdies die Vorstellung, dass Texte im Diskurs eine Sprache der Macht entfalten, Herrschaftsverhältnisse ausdrücken und ihre Funktion in der Unterdrückung besteht, die durch die Änderung der Texte, durch das Gendern gebrochen werden kann. Ohne das Dogma, dass Sprache Macht und Sprechen Machtausübung wäre, existierten keine Forderungen nach einer gendersensiblen Sprache, nach einer gerechten Sprache, weil das Gendern von Sprache generell als Kampfform begriffen wird, „um die eifersüchtig gehüteten Begriffe aus dem herrschenden Diskurs“ sich anzueignen, um sie „für eine neue politische Bewegung umzuarbeiten und zu resignifizieren“, wie Judith Butler schreibt.

Der Sturm auf die Sprache gilt in der Gendertheorie als eine der zentralen Offensiven auf die Gesellschaft zum Zwecke ihrer radikalen Umgestaltung, die gern Emanzipation genannt wird. Die vielleicht wichtigste Theoretikerin des Genderismus, Judith Butler, wird in ihrem Text „Hass spricht“ deutlich: „Ich möchte sogar behaupten, dass gerade darin, dass der herrschende, autorisierte Diskurs enteignet werden kann, eine Möglichkeit seiner subversiven Resignifikation liegt. Dass die Wendung „herrschender, autorisierter Diskurs“ bei Lichte besehen eine unter philosophisch klingenden Formulierungen verborgene plumpe Klassenkampfmetapher ist, wird noch zu zeigen sein. Unter Resignifikation wird Umdeutung oder genauer Um-Bezeichnung verstanden, so wenn beispielsweise ein Schimpfwort von den Beschimpften zum Ehrenwort erhoben und dadurch als Waffe gegen den Beschimpfer benutzt wird, ein Vorgang übrigens, der immer wieder in der Geschichte geschieht und keine originäre Erfindung Judith Butlers ist, sondern einen gängigen Mechanismus darstellt.

Ganz allgemein gesprochen handelt es sich darum, die Begriffe umzuformulieren, den Diskurs zu unterlaufen, ihn umzukehren, ihn gegen den Klassen- oder Geschlechterfeind zu richten. Was Judith Butler meint, wenn sie von Enteignung und Subversivität spricht, könnte man auch als linguistische Unterwanderung der Gesellschaft oder als feindliche Übernahme verstehen. Sie träumt von der „performativen Macht“, die darin liegt, „wenn man sich gerade die Begriffe aneignet, von denen man verletzt wurde“.

Die gendersensible Betrachtung biblischer Texte erschöpft sich nicht einmal im Ansatz darin, die Brüder durch Brüder und Schwestern im biblischen Text zu ersetzen, sondern es steht wesentlich mehr auf dem Spiel, denn aus Sicht der Theoretiker des Genderismus gehört der Text der Bibel zum „herrschenden, autorisierten Diskurs.“ Derjenige, für den es darum geht, „zur Geschlechter-Verwirrung anzustiften“, weil für ihn die beiden Geschlechter nur der Ausdruck einer „Zwangsheterosexualisierung“ und Repräsentationen der Sprache der Macht, Performationen männlicher Herrschaft sind, muss in der Bibel bei 1. Mose 1, 27 ansetzen: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau“ und schließlich die Hand an die Wiege zu liegen, sprich die Erziehung der Kinder in die Hand zu bekommen, um ein sexuelles Normativ zu setzen, bevor Kinder ihre Sexualität selbst entdecken.

Beispiele hierfür sind Broschüren wie „Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben. Sexuelle und Geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik“, die von der schwul-lesbischen, transgender etc. Bildungsinitiative QUEERFORMAT im Auftrag des Berliner Senats an Kita-Erzieher zum Zwecke der Indoktrination, der Enteignung und Subversion verteilt wird. Die „Bildungsinitiative“ wirbt für sich, ein Trägerverbund der Bildungseinrichtungen ABqueer und KomBi“ zu sein und über „Erfahrungskompetenz in queerer Bildung seit dem Jahr 1980“ zu verfügen. Unter queer ist hierbei all das zu verstehen, was nicht heterosexuell ist. Schaut man sich die Organisationen an, die hinter QUEERFORMAT stehen, kann man davon ausgehen, dass man im Kampf vereint steht gegen die „Zwangsheterosexualisierung“.

Vielfalt wurde zum Kampf- und Tarnbegriff zur Propagierung homosexueller Lebensweisen, Heterosexualität hingegen stigmatisiert. Gerade homosexuelle Feministinnen hatten erkannt, dass der Kampf gegen die „Zwangsheterosexualisierung“ bei den Kindern beginnen müsse, als Akt der Enteignung der Begriffe und der subversiven Resignifikation. Bevor die Kinder selbst ihre eigene, die meisten von ihnen ihre heterosexuelle Geschlechtlichkeit entdecken, soll möglichst früh bereits für Homosexualität geworben werden.

Im Grunde bezeichnet der linguistisch klingende Begriff Resignifikation in vulgo den Versuch, Sprache durch Sprachregulierung, durch Sprachzerstörung, durch den Einsatz von Einschüchterungen, einer informellen Zensur und die Errichtung von Internetpranger, gern auch von der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt, um Kritiker der Gendertheorie zu diffamieren, mit dem strategischen Ziel, die Gesellschaft umzubauen. Zu diesem Zweck wird der Feind definiert, unter dem vorrangig von Judith Butler der heterosexuelle Mann verstanden wird.

Es geht nicht um eine gerechte Sprache oder Gendersensibilität, sondern um einen ideologischen Kampf um die Deutungshoheit, wie es sich beim Genderismus auch nicht um die Gleichberechtigung der Frau oder um die Umsetzung der Forderung nach gleicher Bezahlung oder gleichen Entwicklungschancen handelt, sondern um ein linksliberales Gesellschaftsmodell, das die US-amerikanische Soziologin Nancy Frazer einmal so beschrieb: „Die US-amerikanische Form des progressiven Neoliberalismus beruht auf dem Bündnis ›neuer sozialer Bewegungen‹ (Feminismus, Antirassismus, LGBTQ) mit Vertretern hoch technisierter, ›symbolischer‹ und dienstleistungsbasierter Wirtschafts- sektoren (Wall Street, Silicon Valley, Medien- und Kulturindustrie etc.). In dieser Allianz verbinden sich echte progressive Kräfte mit einer ›wissensbasierten Wirtschaft‹ und insbesondere dem Finanzwesen … Die Politik Clintons, von seinen Nachfolgern einschließlich Barack Obama fortgeführt, bewirkte eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse aller Arbeitnehmer, besonders aber der Beschäftigten in der industriellen Produktion … Sie setzen Emanzipation mit dem gesellschaftlichen Aufstieg der ›Begabten‹ unter den Frauen, Minderheiten und Homosexuellen gleich und wollen die The-winner-takes-all-Hierarchie nicht mehr abschaffen“, wie bei der US-amerikanischen Marxistin Nancy Fraser nachlesen kann.

Categories: Tichys EinblickTags: , Daily Views: 1Total Views: 19
wegen-„schlechter-wissenschaft“?-–-unmut-bei-us-gesundheitsbehoerdenWegen „schlechter Wissenschaft“? – Unmut bei US-Gesundheitsbehörden
sieben-fragen-eines-pfarrers-an-seine-ekd-ratsvorsitzendeSieben Fragen eines Pfarrers an seine EKD-Ratsvorsitzende