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«Serotonin-Dogma zu Antidepressiva ist haltlos – ihr Schadenspotenzial aber so wie das von Drogen»

Published On: 9. September 2022 13:29

Veröffentlicht am 9. September 2022 von TE.

Ohne Frage, in den vergangenen Jahrzehnten hat die Zahl der Verschreibungen von Antidepressiva drastisch zugenommen. Businessinsider.com etwa berichtete 2014, der Gebrauch sei «seit 1988 explodiert: Amerikaner schlucken Antidepressiva wie Zoloft und Paxil viermal so häufig wie früher.» Andernorts ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten.

Experten wie Joanna Moncrieff sehen dies mit grosser Sorge. Warum das so ist, erläutert die Professorin für kritische und soziale Psychiatrie vom University College London im Interview:

Liebe Joanna! In Ihrer aktuellen Studie schlussfolgern Sie, dass das Dogma, Depressionen würden durch eine verringerte Serotoninaktivität oder -konzentration verursacht, haltlos sei – und dass diese Feststellung «Schockwellen in der breiten Öffentlichkeit ausgelöst» hätte. Wieso?

Joanna Moncrieff: Die Menschen glaubten, dass es wissenschaftliche Beweise für einen Zusammenhang zwischen Serotonin und Depression gibt. Und die Menschen haben das geglaubt, weil die Pharmaindustrie in den 1990er Jahren eine sehr breit angelegte und sehr teure Werbekampagne gestartet hat. Deren Ziel war es, die Menschen davon zu überzeugen, Depressionen seien auf ein chemisches Ungleichgewicht und insbesondere auf einen Mangel an Serotonin zurückzuführen und dieser könne durch die Einnahme eines Antidepressivums behoben werden. Das war eine riesige Marketingkampagne, mit der man sich über das Internet sowohl an Ärzte als auch an die breite Öffentlichkeit wandte.

In Ländern, in denen direkt an die Verbraucher gerichtete Werbung möglich ist, wurden Antidepressiva im Fernsehen, Radio und anderen Medien beworben. Damit war man sehr erfolgreich. Mit dieser Kampagne sollte dem gesunden Menschenverstand entgegengewirkt werden, der einem eigentlich sagt, dass es wahrscheinlich keine gute Idee ist, ein Medikament einzunehmen, um damit ein emotionales Problem zu lösen. Und tatächlich wurde mit dieser Kampagne erreicht, dass dieser Gedanken umgedreht und durch die Überzeugung ersetzt wird, Depressionen seien nachweislich ein chemisches Problem. Dabei ist dies nicht der Fall. Und es hat sich herausgestellt, dass es keine Beweise gibt, die diese Überzeugung stützen.

Ihre Kritik ist eigentlich nicht neu. Psychiater wie David Healy oder Peter Breggin haben genau diese Kritik schon vor Jahren geäussert. Warum also dringt diese Kritik nicht an die Oberfläche der Realität?

Führende Psychiater wissen schon seit Langem, dass es keine Beweise für die Serotonin-Theorie zu Depressionen gibt. Aber niemand hat die breite Öffentlichkeit darüber informiert. Kein führender Psychiater hat es auf sich genommen, die Öffentlichkeit darüber zu informieren. Leute wie David Healy haben das getan, und Leute wie ich und einige andere haben darüber geschrieben. Aber die führenden Psychiater, so müssen wir feststellen, haben kein Problem damit, dass die Öffentlichkeit weiterhin in der falschen Vorstellung gelassen wird, es gebe einen Zusammenhang zwischen Serotonin und Depression.

Sie ernten aber auch Widerspruch. Ronald W. Pies zum Beispiel, emeritierter Professor für Psychiatrie, entgegnet zu Ihrer Übersichtsarbeit, dass «Psychiater klinische Depressionen historisch gesehen nie ausschliesslich mit einem verminderten Serotoninspiegel oder einem bestimmten Neurotransmitter erklärt haben» und dass genau wie bei den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern, den sogenannten SSRIs, wie Prozac «viele Medikamente in der klinischen Medizin über unbekannte oder mehrere Mechanismen wirken. Und das hat keinen Einfluss auf ihre Sicherheit, Wirksamkeit oder Zulassung für die medizinische Verwendung.» Widerspricht das nicht Ihren Ansichten?

Zunächst einmal stimmt es, dass Psychiater Depressionen immer als ein bio-psycho-soziales Phänomen betrachtet haben, bei dem das Biologische nur einen Teil darstellt. Aber es da gibt ein Problem. Wenn man davon ausgeht, dass es eine bestimmte Anomalie im Gehirn gibt, die durch ein Medikament angegangen werden kann, dann ist es natürlich sinnvoll, dieses Medikament zu nehmen. Vor allem auch dann, wenn man meint, dass andere Dinge wie das, was im Leben der Menschen vor sich geht, in den Hintergrund zu treten haben und man sich auf ein Problem im Gehirn konzentrieren müsse. Dann muss man es natürlich korrigieren, wenn man es denn korrigieren kann. Aber dieser Ansatz ist irreführend, denn den Leuten zu suggerieren oder zu erzählen, dass eine Anomalie festgestellt wurde, dass eine Anomalie des Serotonins gefunden wurde, [hat keine wissenschaftliche Grundlage, denn] in Wirklichkeit wurde sie nicht gefunden.

Sie haben auch Recht damit, dass viele Psychiater in letzter Zeit sagen, dass es keine Rolle spielt, wie Antidepressiva wirken, und dass diese Psychiater nicht unbedingt gesagt haben, dass die Präparate wirken, indem sie ein zugrunde liegendes chemisches Ungleichgewicht beheben. Dazu möchte ich zwei Dinge sagen. Erstens ist der Aspekt, wie Antidepressiva wirken, wirklich wichtig. Und zweitens: Selbst wenn Psychiater die Idee des chemischen Ungleichgewichts als Ursache einer Depression nicht propagieren und sich scheuen dies zu tun, weil diese Idee so weit verbreitet ist und so viele Menschen dem Glauben nachhängen, dass sie wahr ist, so reicht es nicht aus, sie einfach nicht zu propagieren. Man muss den Leuten vielmehr wirklich sagen, dass man diese Idee nicht unterstützt, dass es keine Beweise für sie gibt.

Der wichtigste Beweis wäre eine placebokontrollierte Studie, die aufzeigt, dass die Einnahme eines Antidepressivums viel besser ist als nichts zu tun. In diesem Zusammenhang sagen Sie, Studien hätten gezeigt, dass Antidepressiva nur «geringfügig besser als ein Placebo [oder Nichtstun] sind in Bezug darauf, die Depressionswerte über einige Wochen abzusenken. Der Unterschied ist jedoch so gering, dass nicht klar ist, ob er überhaupt erkennbar ist. Und es gibt Hinweise darauf, dass die geringe Differenz eher durch ein ungenügendes Studiendesign als durch die Wirkung der Medikamente erklärt werden kann.» Dem hält der bereits zitierte Psychiater Pies entgegen, dass «es reichlich Beweise aus placebokontrollierten Studien dafür gibt, dass die serotonerge, [also den Serotoninspiegel beeinflussende] Antidepressiva sicher und wirksam sind und zur Behandlung akuter schwerer depressiver Episoden eingesetzt werden können.»

Dieser Punkt ist wirklich wichtig. So viele Leute haben als Reaktion auf unsere Arbeit behauptet, Antidepressiva würden wirken und nachweislich einen wichtigen und erheblichen Nutzen haben. Dem möchte ich entgegnen, dass ich nicht glaube, dass das stimmt. Es gibt viele grosse Analysen von placebokontrollierten Antidepressiva-Studien, die darlegen, dass der Unterschied zwischen Placebo und Antidepressivum sehr gering ist. Das ist unumstritten. Vor Kurzem wurde eine sehr grosse Studie in der Zeitschrift BMJ veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass der Unterschied zwischen dem Antidepressivum und dem Placebo auf der Depressionsbewertungsskala weniger als zwei Punkte beträgt, und zwar auf einer 52-Punkte-Skala. Niemand glaubt, dass dieser Unterschied klinisch von Bedeutung ist.

Diese Studien beziehen sich auch allesamt nur auf einen kurzen Beobachtungszeitraum. Und es kann eben sogar sein, dass die Unterschiede zu gross gemessen worden sind, weil methodisch nicht ganz sauber vorgegangen worden war. In Wahrheit kann also nicht einmal der ausgewiesene kleine Unterschied zwischen Medikament und Placebo existieren.

Die Frage ist im Übrigen, worauf dieser Unterschied zurückzuführen wäre. Und ich denke, dass es dafür zwei mögliche Erklärungen gibt. Die eine ist, dass die Teilnehmer an diesen Studien oft wissen, ob sie das aktive Medikament oder das Placebo nehmen, da sie ein paar durch das Präparat verursachte Nebenwirkungen spüren. Sie fühlen sich eben ein wenig anders. Folglich könnten die Personen, die in diesen Studien das aktive Medikament einnehmen, durchaus einen «amplified placebo effect», also einen «verstärkten Placebo-Effekt», haben, wie man es nennen könnte. Das könnte den Unterschied zwischen dem Placebo und dem Medikament erklären.

Die andere mögliche Erklärung ist, dass Antidepressiva eine betäubende Wirkung auf die Gefühle haben. Das könnte dazu führen, dass die Intensität der zugrunde liegenden Traurigkeit und der depressiven Gefühle einer Person vorübergehend verringert wird und dass auch die Intensität positiver Gefühle wie Glück oder Freude verringert wird.

Wenn die Wissenschaft, wie Sie sagen, eindeutig ist in Bezug auf den Punkt, dass es keine solide Studie gibt, die zeigt, dass die Einnahme eines Antidepressivums besser ist als nichts zu tun oder ein Placebo zu nehmen – warum gibt es dann noch Leute wie Pies, die dem widersprechen und das offizielle Narrativ verteidigen?

Psychiater scheinen sehr zurückhaltend zu sein, wenn es darum geht, die Einnahme von Antidepressiva zu kritisieren. Das liegt meines Erachtens daran, dass die Psychiater und ein grosser Teil der Gesellschaft, der ihnen folgt, davon überzeugt sind, Depressionen seien ein medizinisches Problem, das mit einer medizinischen Lösung behandelt werden kann. Und deshalb fühlen sie sich von allem bedroht, was diese Sichtweise grundsätzlich in Frage stellt.

Wie gross ist der Einfluss der Pharmaindustrie auf die Psychiatrie?

Die Pharmaindustrie hat einen grossen Einfluss auf die Öffentlichkeit und auf die Psychiatrie. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass die Psychiater die Idee des chemischen Ungleichgewichts schon hatten, bevor sich die Pharmaindustrie hier wirklich einbrachte. Denn die Theorie, dass Depressionen mit einem niedrigen Serotoninspiegel zusammenhängen, stammt aus den 1960er Jahren und wurde von einem britischen Psychiater in die Welt gesetzt. Die pharmazeutische Industrie begann in den 1990er Jahren, diese Idee des chemischen Ungleichgewichts zu fördern. Und sie trägt dazu bei, dass sich diese Idee in der Psychiatrie verstärkt breit macht. Und was sie wirklich erreicht hat, ist, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass es sich um eine glaubwürdige Theorie handelt, die sich bewährt hat.

Gibt es eine grössere Studie in diesem Feld, die nicht von der Pharmaindustrie finanziert wird? Gibt es eine unabhängige Wissenschaft?

Die Pharmaindustrie hat die Forschung über Antidepressiva massiv beeinflusst, denn sie führt die allermeisten Studien über Antidepressiva durch. Und wir wissen, dass die Studien der Pharmaindustrie die Wirkung des Medikaments, für das das Pharmaunternehmen wirbt, oft «aufblähen». Wenn die Studien keine positiven Ergebnisse für das Medikament des Unternehmens zeigen, werden sie nicht veröffentlicht, sie werden gewissermassen «begraben». Und selbst in den Studien, die veröffentlicht werden, wird oft manipuliert, «massiert» – und es werden die positiven Ergebnisse stärker hervorgehoben, als es von der Vernunft her betrachtet sein sollte.

Das heisst: Ja, die Pharmaindustrie hat definitiv einen erheblichen Einfluss auf die Forschung zu Antidepressiva.

Ich möchte noch einmal den Psychiater Pies zitieren, der auch konstatiert: «Wenn serotonerge Wirkstoffe nicht hilfreich sind, dann können Antidepressiva aus anderen Klassen in Betracht gezogen werden.» Im Gegensatz dazu sagte mir der US-Journalist Robert Whitaker, der der heutigen medikamentenfixierten Psychiatrie seit geraumer Zeit kritisch gegenübersteht, 2013 in einem Interview: «Wenn man sich anschaut, wie die Medikamentencocktails verschrieben werden, ist das alles wirklich ein bisschen Hexenwerk» im Sinne von Hokuspokus. Kann also der Wechsel zu anderen Medikamenten eine Lösung sein – und wenn ja, gibt es stichhaltige Beweise dafür, dass dieser Ansatz nützlich ist? Oder ist das alles tatsächlich «Hexerei», wie Whitaker sagt?

Wir haben aufgezeigt, dass es keine Beweise für die Idee gibt, dass Antidepressiva eine zugrunde liegende Serotonin-Anomalie korrigieren können. Und es gibt keine besseren Beweise in Bezug auf andere Anomalien und andere Neurochemikalien, die den Einsatz von Antidepressiva rechtfertigen könnten. Alle Antidepressiva sind psychoaktive Substanzen in dem Sinne, dass sie normale mentale Zustände verändern. Von vielen Antidepressiva wird berichtet, dass sie zum Beispiel einen Zustand der emotionalen Betäubung hervorrufen, der sowohl positive als auch negative Gefühle betäubt. Und diese Wirkungen beeinflussen natürlich die Depressionsbewertungsskalen und andere Messungen, die in randomisierten Studien durchgeführt werden.

Alle Antidepressiva haben Auswirkungen auf die Menschen, sie verändern das normale Denken und Fühlen der Menschen auf die eine oder andere Weise, auch wenn bei einigen Präparaten die Auswirkungen sehr subtil sind. Alle Arten von Antidepressiva haben Auswirkungen auf den Menschen, denn es handelt sich bei ihnen nicht einfach um «träge», inaktive Substanzen. Aber wir haben keine Beweise dafür, dass ein SSRI-Antidepressivum oder ein anderes Medikament auf die Anomalie abzielen, die der Depression zugrunde liegt oder die die Symptome der Depression verursacht.

Klar, viele Menschen berichten, dass sie sich nach der Einnahme von Antidepressiva besser fühlen. Und viele, viele Menschen fühlen sich nach der Einnahme von Antidepressiva tatsächlich besser. Wir wissen aber auch, dass sich viele Menschen auch nach der Einnahme eines Placebos besser fühlen. Wir wissen, dass der grösste Teil der Wirkung eines Antidepressivums zweifellos ein Placebo-Effekt ist. Der Einfluss der Erwartungen der Menschen und der Tatsache, dass ihnen Hoffnung und Unterstützung geboten wird, ist enorm. Das hat einen erheblichen Einfluss auf das Befinden der Menschen.

Sie sagen auch, dass «es nicht selbstverständlich ist, dass die Manipulation des Gehirns mit Medikamenten die sinnvollste Ebene ist, um mit Emotionen umzugehen» und dass die dem Versuch gleichkommt, «eine Festplatte zu löten, um ein Problem mit der Software zu beheben.» Das klingt, als würden Sie Kritik üben wollen am mechanistischen Weltbild, das die «moderne» Welt beherrscht und zu dessen Aufkommen René Descartes massgeblich beigetragen hat. So betrachtete der französische Philosoph aus dem 17. Jahrhundert den Körper von Lebewesen als eine Art Maschine. Wollen Sie damit darauf hinaus, dass die Vorgänge im Körper zu komplex sind, als dass man sie vergleichen könnte mit einer Computerfestplatte, die man durch Löten repariert – und dass dadurch viel zu wenig Raum bleibt für den Umgang mit Emotionen oder Gefühlen?

Wir brauchen unser Gehirn und auch unseren Körper, um zu denken, zu fühlen, zu kommunizieren, um all das zu tun, was wir tun. Das heisst aber nicht, dass wir die Natur unserer Gedanken und Gefühle erklären können, indem wir ins Gehirn schauen. Das ist die falsche Ebene, um menschliches Verhalten, menschliches Denken und menschliches Fühlen zu verstehen. Dies ist nicht nur meine Meinung, sondern auch die vieler anderer Menschen, die diese reduktionistische Sichtweise kritisieren, weil mit ihr Depression, Glück oder Liebe oder jemandes politische Ansichten, jemandes Geschmack für Bücher oder Musik auf Ereignisse im Gehirn reduziert werden.

Auch viele Philosophen haben darüber geschrieben, dass diese Sichtweise unsinnig ist. Diese menschlichen Eigenschaften wie Liebe und Musikgeschmack müssen im Kontext der menschlichen Welt verstanden werden. Sie ergeben keinen Sinn, wenn man versucht, über sie in Form von Nerven und neurologischen Ereignissen und Aktivitäten zu sprechen.

Selbst Experten wie Pies räumen ein, dass «es legitim ist, darüber zu diskutieren, ob Antidepressiva wirksam sind, wenn man sie langfristig einnimmt». Sie gehen noch einen Schritt weiter und stellen nicht nur fest, es sei «unmöglich zu sagen, dass die Einnahme von Antidepressiva oder SSRIs lohnenswert ist», sondern auch, dass «es nicht klar ist, dass diese Medikamente mehr Nutzen als Schaden bringen». Welche Schäden können sie anrichten?

Dies ist ein wirklich wichtiger Punkt. Wir haben definitiv keine Beweise dafür, dass Antidepressiva eine zugrundeliegende Störung rückgängig machen. Andererseits wissen wir – und niemand bestreitet das –, dass es sich um Medikamente handelt, die auf das Gehirn wirken. Ja, wir müssen sogar zu dem Schluss kommen, dass diese Medikamente tatsächlich den normalen Zustand des Gehirns verändern. Sie modifizieren es, sie verändern unseren normalen Gehirnzustand, unsere normale Gehirnchemie. Und wenn Sie eine Substanz einnehmen, die Ihre normale Gehirnchemie jeden Tag über Wochen, Monate oder Jahre hinweg verändert, dann können Sie sich dadurch selbst Schaden zufügen. Wir wissen das, weil bekannt ist, dass Menschen, die jeden Tag viel Alkohol trinken, sich selbst Schaden zufügen, und dass Menschen, die andere Modedrogen nehmen, die ebenfalls die Gehirnchemie verändern, sich selbst Schaden zufügen können.

Zudem wissen wir, dass die langfristige Einnahme von Antidepressiva eine Reihe von Schäden verursachen kann, die mit der Art und Weise zusammenhängen, wie sie das Gehirn verändern. So wissen wir heute beispielsweise, dass Menschen körperlich von Antidepressiva abhängig werden und bei ihnen daher, wenn sie versuchen, die Einnahme zu beenden, manchmal wirklich schwere, schwächende und langwierige Entzugserscheinungen auftreten können. Wir wissen auch, dass Antidepressiva sexuelle Funktionsstörungen verursachen. Das tun sie sogar kurzfristig. Es handelt sich um eine sehr häufige Nebenwirkung, die sehr gut bekannt ist.

Und es wird immer deutlicher, dass die sexuellen Nebenwirkungen bei manchen Menschen auch dann noch auftreten, wenn sie das Antidepressivum absetzen. Das deutet darauf hin, dass das Antidepressivum die Sexualität verändert hat. Und das setzt voraus, dass das Antidepressivum das Gehirn in irgendeiner Weise verändert hat, in einer schädlichen Weise.

Ich sage nicht, dass es sich dabei unbedingt um einen Dauerzustand handelt. Wir haben diese Wirkung noch nicht lange genug beobachtet, um zu wissen, ob sie dauerhaft ist oder ob sie mit der Zeit wieder verschwinden könnte. Aber es ist auf jeden Fall etwas, das bei einigen Menschen auftritt, die diese Medikamente über einen längeren Zeitraum hinweg eingenommen haben.

Antidepressiva werden von Experten wie Peter Breggin auch als Ursache für Gewalttaten und sogar für das Begehen von Morden genannt. Was halten Sie davon?

Es gibt Hinweise darauf, dass Antidepressiva bei jüngeren Menschen häufiger zu selbstmörderischem Verhalten führen können als bei Menschen, die ein Placebo erhalten. Dies geht aus randomisierten kontrollierten Studien hervor. Ausserdem besteht bei jungen Menschen, die Antidepressiva einnehmen, ein höheres Aggressionsrisiko als bei jungen Menschen, die in diesen Studien ein Placebo einnehmen. Das Risiko ist in diesen Studien sehr gering, und zwar nur bei jüngeren Menschen. Dass das Risiko als so gering ausgewiesen wird, ist zum Teil damit zu erklären, dass in diesen Studien versucht wird, Personen auszuwählen, die keine oder nur eine minimale Anzahl von Risikofaktoren aufweisen. Im wirklichen Leben könnte das Risiko also tatsächlich etwas höher sein.

Ich denke im Übrigen, dass dieses Risiko mit der Tatsache zusammenhängt, dass Antidepressiva insbesondere bei jüngeren Menschen eine erregende Wirkung zu haben scheinen. Wir wissen zwar nicht, warum dies bei jungen Menschen häufiger der Fall ist als bei älteren, aber es scheint so zu sein. Bei jüngeren Menschen können Antidepressiva also dazu führen, dass sie unruhiger, angespannter, reizbarer und emotional labiler werden. Diese Wirkung scheint mit impulsivem Verhalten zusammenzuhängen, das gelegentlich auch zu selbstverletzendem, selbstmörderischem und aggressivem Verhalten führen kann.

Sie sagen auch, dass «nur eine Minderheit von Medikamenten auf die eigentliche Ursache einer Krankheit abzielt». Wie würde also eine Behandlung für psychische Erkrankungen wie Depressionen aussehen, die diese «zugrundeliegenden Ursachen einer Krankheit» angeht?

Medikamente behandeln möglicherweise nicht die eigentliche Ursache der Krankheit. In der Tat tun die meisten von ihnen das nicht, aber sie zielen auf die zugrundeliegenden biologischen Pfade ab, die die Symptome hervorrufen. So visieren selbst Schmerzmittel, die eindeutig nur eine symptomatische Behandlung darstellen, die zugrundeliegenden neurologischen Mechanismen, die Schmerzen verursachen, an. Psychopharmaka wirken anders. Sie zielen nicht auf die zugrundeliegenden Prozesse ab. Sie bewirken Veränderungen der normalen mentalen Zustände – und diese Veränderungen überlagern dann das emotionale Problem der Person.

Derzeit kennen wir keine zugrundeliegenden neurologischen Prozesse für irgendeine Art von psychischer Störung, die durch eine biologische Behandlung angegangen werden könnten. Und ich bin mir nicht sicher, ob wir in der Lage sein werden, das zu tun, weil, wie gesagt, die Sichtweise auf psychische Störungen unangemessen reduktionistisch ist. Mit dieser Sichtweise wird halt versucht, das Problem im Gehirn zu finden, anstatt es auf der Ebene des Menschen und des Menschen in seiner Welt zu betrachten.

Was bedeutet das für den Gebrauch von Antidepressiva? Soweit ich es verstanden habe, versucht zum Beispiel der Psychiater Peter Breggin grundsätzlich, den Einsatz von Antidepressiva zu vermeiden. Wie ist das bei Ihnen?

Wenn Menschen sich deprimiert fühlen und ein Medikament nehmen, muss man das meiner Meinung nach genauso sehen wie den Konsum von Alkohol. Während der Einnahme verändert sich der Geisteszustand – und dann hört man mit dem Konsum auf, und der geistige Zustand kehrt zurück. Und wenn man die Droge über einen längeren Zeitraum eingenommen hat, treten möglicherweise auch noch andere Komplikationen auf. Ich bin also generell der Meinung, dass Drogen vermieden werden sollten, vor allem auf lange Sicht. Ich denke, es gibt einige Krisensituationen, in denen ein Medikament wie Benzodiazepin, das die Menschen entspannt und ihnen hilft, einzuschlafen, für ein paar Tage hilfreich sein kann.

Das Wichtigste für mich ist aber, die Menschen wirklich zu informieren, damit sie sich selbst eine Meinung über den Einsatz von Medikamenten bilden können. Es mag Menschen geben, die durch die Einnahme von Antidepressiva versuchen wollen, ihren normalen mentalen Zustand zu verändern, sich anders zu fühlen und ihre Gefühle zu betäuben. Doch dann müssen wir eine Debatte darüber führen, ob wir das für eine angemessene medizinische Behandlung emotionaler Probleme halten, ob wir das unterstützen sollten oder nicht. Aber als Erstes müssen wir wirklich ehrlich darüber reden, was passiert, wenn Menschen Medikamente zur Bewältigung ihrer emotionalen Probleme einnehmen, und die Patienten in diese Debatte einbeziehen.

Was ist dann die Alternative zu Medikamenten? Zum Beispiel eine Psychotherapie? Oder was ist mit Sport, Ernährung und Giftstoffen wie Schwermetallen? Das Buch „Ernährung und Psyche“ etwa, dessen erste Auflage aus den 1980er Jahren stammt, macht den Einfluss von Ernährung, aber auch von Industriegiften auf das psychische Wohlbefinden zum Thema. Oder nehmen wir die 2021 publizierte die Studie «Diet, exercise, lifestyle, and mental distress among young and mature men and women» («Ernährung, Bewegung, Lebensstil und psychische Belastung bei jungen und älteren Männern und Frauen»), die zu folgendem Schluss kommt: «Unsere Ergebnisse unterstützen die Notwendigkeit, Ernährungs- und Lebensstil-Empfehlungen anzupassen, um das psychische Wohlbefinden zu verbessern.»

Als Erstes würde ich sagen, dass wir einen Ansatz brauchen, bei dem psychische Gesundheitsprobleme anders betrachtet werden. Anstatt sie also als Diagnosen oder Störungen zu betrachten, die bei allen Betroffenen gleich sind, müssen wir die Menschen als Individuen mit ihren eigenen Problemen sehen. Und jeder Mensch mit einer Depression reagiert auf eine andere Situation.

Es geht darum zu verstehen, warum jemand depressiv ist und welche Umstände ihn depressiv gemacht haben. Das ist das Wichtigste, um jemandem zu helfen. Jeder Mensch mit Depressionen braucht also eine andere Lösung, je nachdem, was ihn depressiv gemacht hat. Wenn Sie depressiv sind, weil Sie Beziehungsprobleme haben, brauchen Sie vielleicht eine Beziehungsberatung, vielleicht benötigen Sie eine Dating-App. Vielleicht brauchen Sie auch nur einen Freund, mit dem Sie eine Tasse Tee trinken und sich ausweinen können. Auch hier gilt, dass es für jeden anders sein wird.

Das ist also der erste Punkt: Jeder hat aus unterschiedlichen Gründen Probleme mit der psychischen Gesundheit. Und es sind die Gründe, warum die Menschen diese Probleme haben, auf die wir uns konzentrieren müssen, anstatt den Menschen pauschale Behandlungen anzubieten. Abgesehen davon gibt es einige sinnvolle Dinge, die Menschen tun können, um ihre emotionale und geistige Belastbarkeit zu verbessern. Dazu gehört auf jeden Fall Bewegung. Bewegung wirkt sich sehr positiv auf die Stimmung aus und hilft, Ängste abzubauen. Ich glaube also, dass Bewegung für die Menschen sehr wichtig ist. Das Gleiche gilt für eine gesunde, ausgewogene Ernährung und die Pflege des eigenen Körpers. Genügend Schlaf ist ein weiterer sehr wichtiger Faktor für das allgemeine psychische Wohlbefinden.

Ich denke, all diese Dinge sind wichtig. Ich bin mir nicht sicher, ob ich auf bestimmte Diäten oder Nahrungsergänzungsmittel oder Ähnliches eingehen möchte. Aber ich denke, dass es auf jeden Fall hilfreich ist, auf sich selbst zu achten und sich viel zu bewegen.

Was sollten Betroffene dann tun? Gibt es überhaupt viele Therapeuten, die keinen medikamentenfixierten Ansatz verfolgen und zumindest bereit wären, diesen Ansatz auf Wunsch des Patienten nicht zu fahren? Oder folgen 99,9 Prozent der Psychiater dem medikamentenfixierten Weg?

Die meisten Menschen bekommen Antidepressiva von ihrem Hausarzt und nicht von einem Psychiater verschrieben. Und ich weiss, dass die Allgemeinmediziner versuchen, den Menschen Alternativen anzubieten. Ich denke also, dass wir eine Kombination brauchen: Zum einen eine öffentliche Informationskampagne, um die Menschen darüber aufzuklären, dass diese Idee des chemischen Ungleichgewichts falsch ist, nicht unterstützt wird und dass wir nicht wissen, dass Antidepressiva auf diese Weise wirken und sie auch etwas ganz anderes bewirken können, nämlich einige beunruhigende Dinge. Zum anderen müssen wir die Ärzte aufklären, sie ermutigen und dabei unterstützen, den Patienten Alternativen zu Medikamenten anzubieten, zum Beispiel eine Mitgliedschaft im örtlichen Fitnessstudio.

In Grossbritannien gibt es ein gewisses Mass an einer solchen «sozialen Verschreibungspraxis», bei der Ärzte den Menschen ein Rezept für ein Fitnessstudio ausstellen oder ihnen andere soziale Aktivitäten empfehlen können, anstatt ihnen Medikamente zu verschreiben. Und das müssen wir unterstützen und fördern.

Was hat Sie dazu gebracht, kritisch zu werden – und ist es schwierig, in Ihrem Beruf kritisch zu sein? Bekommen Sie viel Unterstützung?

Während meiner Ausbildung entwickelte ich eine kritische Haltung gegenüber der Psychiatrie und den traditionellen medizinischen Lösungen für psychische Probleme. Denn obwohl andere Menschen das Gefühl zu haben schienen, dass Psychopharmaka wie Antidepressiva wirken, konnte ich das nicht erkennen. Klar, einigen Menschen ging es mit ihnen besser, anderen schlechter. Aber wenn es den Leuten besser ging, schien es eine andere Erklärung zu geben. Meiner Meinung nach hatte das nicht unbedingt etwas mit dem Medikament zu tun. Ich war also nicht überzeugt. Ich begann, mich für Psychopharmaka zu interessieren und die Literatur genau zu studieren. Dabei wurde mir klar, dass es bei der Erforschung von Psychopharmaka und psychiatrischen Störungen eine Menge methodischer und konzeptioneller Probleme gibt.

Ich war mir auch bewusst, dass einige meiner Psychiaterkollegen meine Bedenken hinsichtlich des vorherrschenden biomedizinischen Ansatzes in Bezug auf psychische Probleme teilten. Aus diesem Grund gründete ich eine kleine Gruppe mit dem Namen «Critical Psychiatry Network». Sie existiert immer noch und besteht aus Psychiatern, die dem biomedizinischen Modell und der Dominanz der pharmazeutischen Industrie sowie der Vorherrschaft medikamentenzentrierter Ansätze für psychische Probleme skeptisch gegenüberstehen.

Was ist mit dem Berufsstand, in dem Sie arbeiten – wie reagiert der auf Ihre Ansichten? Und seid ihr nur eine kleine Gruppe, seid ihr die Ausnahme?

Wir sind eine Minderheit. Und wahrscheinlich sind die meisten führenden Köpfe unseres Berufsstandes Leute, die sich für biologische Psychiatrie interessieren und biologische Forschung betrieben und mit der Pharmaindustrie zusammengearbeitet haben. Aber es gibt auch einige Sozialpsychiater, die sich mehr mit den sozialen Ursachen psychischer Erkrankungen und auch mit sozialen Behandlungen und der Gestaltung unserer Dienstleistung befassen. Und sicherlich gibt es in Grossbritannien viele Sozialpsychiater …

… aber werden Sie attackiert oder unter Druck gesetzt von Kollegen oder anderen?

Es gibt ohne Frage Sozialpsychiater und Leute wie mich. Aber ich würde sagen, dass in der Psychiatrie nach wie vor eine grosse Abwehrhaltung vorzufinden ist, insbesondere gegenüber denjenigen, die die Grundlage von Medikamenten wie Antidepressiva, die so häufig eingesetzt werden, in Frage stellen. Ja, ich bin dafür kritisiert worden, dass ich mich entsprechend kritisch geäussert und versucht habe, faktisch klarzumachen, wie sich die Art und Weise, wie über Serotonin geforscht wird, auf unser Verständnis des Einsatzes von Antidepressiva auswirkt.

Ich habe das Gefühl, dass es dem Berufsstand lieber wäre, wenn dieses Thema in der Öffentlichkeit nicht diskutiert würde und die Menschen nicht über die Tatsache aufgeklärt würden, dass Antidepressiva bewusstseinsverändernde und gehirnverändernde Medikamente sind, die schädliche Auswirkungen haben können, wenn sie über längere Zeiträume eingenommen werden.

Wenn wir einen kurzen Blick in die Zukunft werfen, sind Sie da zuversichtlich, dass sich dies ändern wird, oder was denken Sie?

Oh, Gott! Ich glaube, es gibt heute viele Menschen, vor allem wenn ich mit Menschen in den USA spreche, die völlig davon überzeugt sind, dass es sich bei psychischen Problemen um Probleme im Gehirn handelt und dass wir nur das Gehirn behandeln und das richtige Medikament oder die richtige Art von biologischer Intervention finden müssen. Diese Einstellung hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr tief im öffentlichen Bewusstsein verankert. Ich glaube also nicht, dass sich das über Nacht ändern wird. Andererseits gibt es aber auch eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die diese Idee in Frage stellen. Und ich denke und hoffe, dass diese Zahl nach der Veröffentlichung unseres Papers und aufgrund von Gesprächen wie dem, das wir gerade führen, und dem, das Journalisten wie Sie mit anderen kritischen Psychiatern und kritischen Stimmen im Bereich der psychischen Gesundheit geführt haben, steigen wird.

Ich danke Ihnen, Joanna, für dieses Gespräch.

Vielen Dank, Torsten.

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Über Joanna Moncrieff: Sie ist Professorin für kritische und soziale Psychiatrie am University College London und arbeitet als beratende Psychiaterin im NHS. Sie forscht und schreibt über den übermässigen Einsatz und die falsche Darstellung von Psychopharmaka sowie über die Geschichte, Politik und Philosophie der Psychiatrie im Allgemeinen. Derzeit leitet sie eine von der britischen Regierung finanzierte Studie zur Reduzierung und zum Absetzen von Antipsychotika (RADAR-Studie) und arbeitet an einer Studie zur Unterstützung des Absetzens von Antidepressiva mit. In den 1990er Jahren war sie Mitbegründerin des Critical Psychiatry Network, das dazu dient, sich mit anderen, gleichgesinnten Psychiatern zu vernetzen. Sie ist Autorin zahlreicher Fachartikel und hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter «A Straight Talking Introduction to Psychiatric Drugs Second edition», das im September 2020 bei PCCS Books erschien sowie «The Bitterest Pills: The Troubling Story of Antipsychotic Drugs» (2013) und «The Myth of the Chemical Cure» (2009).

Die Adresse ihrer Website lautet https://joannamoncrieff.com/, ihr Twitter-Account ist https://twitter.com/joannamoncrieff?.

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