Jahrestag der Kapitol-Stürmung: die «unmenschliche» Hand der Justiz

Veröffentlicht am 6. Januar 2023 von TE.

Das Bild ging um die Welt: das von dem Mann mit der rot-weiss-blauen Gesichtsbemalung und einer Wikinger-Kopfbedeckung aus Fell mit Hörnern, der am 6. Januar 2021 zusammen mit rund 1000 anderen «Aufrührern» ins Kapitol in Washington eindrang. Doch wer kennt die persönlichen Geschichten dahinter?

Das Tablet-Magazin hat sich die Mühe gemacht, zum zweiten Jahrestag der Kapitol-Stürmung mit dem Artikel «Staatsfeinde» («Enemies of the State») ein kritisches Resümee des Ereignisses zu ziehen und dabei auch die Schicksale von fünf Aufrührern zu beleuchten – Schicksale, die bei näherer Betrachtung härter erscheinen, als gemeinhin bekannt sein dürfte.

Eine der Geschichten, die das Tablet-Magazin nacherzählt, ist die von Jacob Anthony Chansley, auch bekannt als der QAnon-Schamane. Er war einer der ersten, die am 6. Januar 2021 das Kapitol, den Sitz des Kongresses in Washington, betraten – und obwohl er schliesslich mit den Strafverfolgungsbehörden kooperierte, keine Vorstrafen hatte und nicht wegen eines Gewaltverbrechens angeklagt war, sass er 317 Tage in Einzelhaft; Quelle: tabletmag.com

«Einige sitzen im Gefängnis, andere warten noch auf ihren Prozess, wieder andere wurden erst kürzlich verhaftet», so das Online-Magazin für jüdische Nachrichten. «Was auch immer man von den Ereignissen vor dem Kapitol halten mag, die Justiz hat das Gesetz in höchst uneinheitlicher Weise auf die Beteiligten angewendet.»

Insgesamt seien 950 Personen wegen ihrer Beteiligung an der Kapitol-Stürmung verhaftet und etwa 860 davon angeklagt worden. 484 Angeklagte hätten sich schuldig bekannt, allerdings nur 119 in Bezug auf Schwerverbrechen. Und 351 Angeklagte seien bisher verurteilt worden, davon 192 zu Gefängnisstrafen.

Die Untersuchungshaft einiger Angeklagter sei «unmenschlich» gewesen, wie es das Magazin ausdrückt. «Die langen Zeiten der Einzelhaft selbst für gewaltlose Straftäter veranlassten die demokratische Senatorin Elizabeth Warren zu der Annahme, dass die Isolationshaft dazu dient, Menschen zu bestrafen, bevor sie überhaupt verurteilt wurden, oder sie zu brechen, damit sie kooperieren.»

Auch seien einige Beteiligte offenbar von allzu aggressiven Anklagen und Verurteilungen überrollt worden, und ihre Verfahren befänden sich nun in einem juristischen Schwebezustand.

Dabei hätte vor allem auch die Politik verbal Öl ins Feuer des Strafrechtssystems gegossen. Präsident Biden etwa hätte die Beteiligten als «Aufrührer, die unserer Demokratie einen Dolch in den Hals gerammt haben» beschrieben und vom «schlimmsten Angriff auf unsere Demokratie seit dem Bürgerkrieg» gesprochen. Die Vizepräsidentin Kamala Harris wiederum habe den 6. Januar mit Pearl Harbor und 9/11 verglichen.

Doch «Biden und Harris können unmöglich glauben, dass ein Aufstand, bei dem nur eine Person gewaltsam ums Leben kam – die Trump-Anhängerin Ashli Babbitt, die von einem Polizeibeamten im Kapitol erschossen wurde – mit einigen der blutigsten Katastrophen in der amerikanischen Geschichte vergleichbar ist», wie das Tablet-Magazin zu bedenken gibt.

Dass verbal derart ins Eingemachte gegangen wurde, auch von zahllosen anderen Politikern und Experten, stelle das Ereignis und die Menschen, die daran beteiligt waren, in eine besondere Kategorie ausserhalb der normalen Standards des Gesetzes.

Dies zeige sich besonders auch daran, wie mit dem erwähnten Anthony Chansley, dem Mann mit der rot-weiss-blauen Gesichtsbemalung und der Wikinger-Kopfbedeckung aus Fell mit Hörnern, verfahren wurde.

Wie das Tablet-Magazin schreibt, hätte Chansley am 6. Januar 2021 das Kapitol durch eine aufgebrochene Tür betreten und anschliessend einen Polizeibeamten des Kapitols aufgefordert, «sie passieren zu lassen, wobei er schliesslich sein Megaphon benutzte, um die Menge aufzuwiegeln und zu fordern, dass die Gesetzgeber herausgeholt werden», wie es in der von den Behörden vorgelegten Beschreibung heisst. Um circa 14:52 Uhr betrat der Angeklagte allein die Galerie des Senats.

Der Angeklagte hätte dann damit fortgefahren, Obszönitäten in die Galerie zu schreien, einschliesslich «time’s up motherfuckers» [«Die Zeit ist um, ihr Arschlöcher»]. Auf dem Podium des Senats schrieb er dann eine Notiz für Vizepräsident Mike Pence, auf der stand: «Es ist nur eine Frage der Zeit. Die Gerechtigkeit wird kommen!»

Obwohl er mit den Strafverfolgungsbehörden kooperierte, keine Vorstrafen hatte, nicht wegen eines Gewaltverbrechens angeklagt war und von Gefängnispsychologen mehrere psychische Störungen einschliesslich Schizophrenie diagnostiziert wurden, musste Chansley satte 317 Tage in Einzelhaft schmoren.

Besonders pikant ist auch, dass sich das Memorandum der Regierung zur Strafzumessung offenbar stark auf Chansleys symbolischen Wert stützte, um auf ein hohes Strafmass zu drängen. So heisst es in dem Dokument:

«Der Angeklagte Chansley ist durch seine inzwischen berühmt gewordenen kriminellen Handlungen zum öffentlichen Gesicht des Capitol-Aufstandes geworden. Der friedliche Übergang der Macht in unserer Nation wurde am 6. Januar 2021 von einem Mob von Tausenden gestört. Und dieser Angeklagte war, im wahrsten Sinne des Wortes, ihr Fahnenträger.»

Von der stellvertretenden US-Staatsanwältin Kimberly Paschall wurde Chansley gar als «inländischer Terrorist» bezeichnet. Und im Memo der Regierung zur Verurteilung weist Paschall auf «die Notwendigkeit» hin, «andere abzuschrecken, insbesondere in Fällen von inländischem Terrorismus».

Chansley wurde am 17. November 2021 zu 41 Monaten Haft in einem Gefängnis in der Nähe seiner Familie in Arizona verurteilt. Dazu kamen drei Jahre auf Bewährung, die Abgabe einer obligatorischen DNA-Probe an seinen Bewährungshelfer und die Zahlung von 2000 US-Dollar als Entschädigung.