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Fette Menschen, fette Profite

Published On: 5. Februar 2023 10:04

Pascal Derungs /  2030 wird die Hälfte der Menschheit übergewichtig sein. Fehlt es an Selbstdisziplin? Ein Arte-Film nennt andere Gründe.

Mediziner sprechen von einer Zeitbombe: Bis 2030 wird die Hälfte der Weltbevölkerung übergewichtig oder gar fettleibig sein. «Adipositas», so der Fachbegriff, sorgt für einen rasanten Anstieg der Zuckerkrankheit Diabetes, von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs – und wird zum schwersten Gesundheitsproblem weltweit. Das belegt eindrücklich die Arte-Dokumentation «Dick, dicker, fettes Geld».

«Heute sind zwei Milliarden Menschen, Erwachsene und Kinder, übergewichtig oder fettleibig», sagt Professor Raj Patel, Ernährungsexperte an der Universität von Austin, Texas. «Wir müssen uns fragen, wer hier die treibenden Kräfte sind.» Laut Lebensmittelindustrie und staatlichen Behörden ist diese Epidemie auf einen Mangel an Bewegung und individueller Selbstdisziplin zurückzuführen. Fettleibigkeit ist mit zahlreichen solchen Klischees verbunden. «Dicke», so heisst es, «essen falsch, sind faul oder haben schlechte Gene», konstatiert der Arte-Bericht.

Doch Fettleibigkeit sei in Wahrheit das Ergebnis eines kollektiven Versagens, das Symptom einer liberalen Gesellschaft, die Fett zwar verabscheue, aber fette Menschen produziere. Es seien die Wirtschaft und die Politik, letztlich die Gesellschaft, die ihre Bürger dick mache. Radikaler formuliert es die Politikwissenschaftlerin Malia Cohen, ehemalige Stadträtin von San Francisco: «Wir sind überzeugt, dass die Industrie im Unrecht ist und gezielt Menschen vergiftet. Die Bevölkerung hat ein Recht, dies zu erfahren.»

Wie ein Irrtum die Fettlawine ins Rollen brachte

In den letzten 40 Jahren erlebte die Ernährung eine fatale Revolution. Seit Anfang der 1980er Jahre gilt die Doktrin, dass Fett verantwortlich sei für die Zunahme von Herz-Kreislauf-Beschwerden. Die US-Regierung forderte die Industrie auf, weniger Fett einzusetzen. Weniger, Fett, mehr Getreide, lautete die Botschaft. Das Etikett «fettarm» wurde geboren und zum Synonym für «gesund» — ein gravierender Irrtum, denn Fett wurde durch Stärke und Zucker ersetzt, also Kohlenhydrate. Damit stieg die Kalorienzufuhr.

Durch Subventionierung des Mais- und Sojaanbaus habe die US-Regierung diese Entwicklung befeuert, sagt die Ernährungsexpertin Marion Nestle von der Uni New York. Das habe die Produktion von Maissirup mit hohem Fruchtzuckergehalt gesteigert. Dieser billige Zucker ersetzt Fett, liefert Geschmack und steigert die Profite. Er hat in immer mehr Produkten Verwendung gefunden. Die Kohlenhydrate des Zuckers seien der Hauptgrund für die grassierende Adipositas-Epidemie, bilanziert der Arte-Bericht.

Arte Film Dick, dicker, fettes Geld Fettleibigkeit Zucker
Zunahme des Zuckergehalts und der Fettleibigkeit über vier Jahrzehnte.

Kohlenhydrate machen süchtig, nicht satt

Das Problem: Zuckerreiche Produkte machen erst recht fett — und süchtig. Denn eine erhöhte Zuckeraufnahme führt zur Steigerung des Insulinspiegels im Körper. Das verleitet die Fettzellen dazu, immer mehr Kalorien zu speichern. Schnell meldet sich wieder das Hungergefühl und verlangt nach mehr Essen – ein Teufelskreis, eine Sucht, von der Betroffene kaum aus eigener Kraft wieder wegkommen.

Fast Food, Süssgetränke, Fertiggerichte mit ihren stark raffinierten Kohlehydraten — das sind die wahren, süchtig machenden Dickmacher, stellt die Arte-Doku klar. Und sie bringen die natürliche Darmflora aus dem Gleichgewicht. Fettleibige haben eine reduzierte Bakterienvielfalt im Darm. Das hat mehrere gesundheitsschädliche Auswirkungen. Die verheerendsten sind Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nierenversagen und Krebs.  

Wie der Bock zum Gärtner gemacht wurde

Anfang des 21. Jahrhunderts begannen westliche Regierungen, der Fettleibigkeit den Kampf anzusagen. Doch sie fokussierten nicht auf die übermässige Kalorienzufuhr durch die Lebensmittel, sondern auf den angeblich «mangelhaften» Kalorienabbau. Die neue Botschaft hiess: mehr Bewegung, mehr Sport! Damit wurde Fettleibigkeit zu einem Problem der Selbstverantwortung erklärt. Für die Lebensmittelindustrie eine Steilvorlage, habe sie doch ihre Mitverantwortung offiziell an die Konsumenten delegieren können, so der Arte-Bericht.

Das zeigt sich beispielhaft am «Global Energy Balance Network», einem internationalen «Forschungsnetzwerk zur Bekämpfung der Fettleibigkeit durch Bewegung», das vom Coca-Cola-Konzern stark unterstützt wurde. Einer der wichtigsten Akteure, Professor Steve Blair von der Universität von South Carolina, behauptete pauschal, es werde nicht zu viel oder das Falsche konsumiert, sondern es gehe lediglich um die richtige Balance zwischen Kalorienaufnahme und Energieverbrauch durch Bewegung.

Laut Arte soll Blair vom Coca-Cola-Konzern Millionen erhalten haben für seine Mitarbeit im «Forschungsnetzwerk» und seine öffentlichen Stellungnahmen. Stéphane Horel, eine Journalistin von «Le Monde», sagt: «Mangelnde körperliche Bewegung wurde innerhalb weniger Jahre und durch Kampagnen wie die von Coca-Cola zu einem zentralen Argument gegen Fettleibigkeit. Dabei wurde es von einem Hersteller kreiert, der sein Produkt schützen wollte.»  Sie spricht von Instrumentalisierung der Wissenschaft.

Die Profitsucht der Food-Multis führt zur Fettsucht der Menschen

Aufgenommene Kalorien lassen sich nicht innert weniger Minuten «weg-joggen», wie es die Kampagnen von Coca-Cola suggerieren. Man müsste eine ganze Stunde joggen, um einen  Hamburger zu verbrennen, und zweieinviertel Stunden für eine Pizza, hält Arte dagegen. Für Professor Raj Patel ist klar, was die Adipositas-Epidemie antreibt: Die Profitgier der Industrie. Ein paar Nahrungsmittel-Multis wie Unilever, Nestlé, Danone, Coca-Cola etc. kontrollieren fast die Gesamtheit der Markenprodukte. Sie setzen damit 500 Milliarden Dollar pro Jahr um.

Darin eingebunden sind eine gigantische Agro-Industrie, riesige Detailhandels- und Fastfoodketten, Vermarkter und Werber weltweit. Alle würden sie Geld damit verdienen, den Leuten süchtig machenden, ungesunden Junkfood anzudrehen, konstatiert der Arte-Report. Weil diese Lebensmittel vielerorts billiger sind und leichter erhältlich als natürliche, sind in erster Linie die ärmeren Bevölkerungsschichten betroffen, denn sie können sich die teureren, gesunden Nahrungsmittel kaum leisten.

Als die traditionellen Märkte nicht mehr wuchsen, verlagerten viele Multis ihre Vermarktungsaktivitäten zunehmend auf Länder mit niedrigeren Einkommen. Das Beispiel Mexico ist erschreckend. Innert zwei Jahrzehnten veränderten sich die Ernährungsgewohnheiten der Menschen massiv. Der Konsum von Süssgetränken nahm um 40 Prozent zu. Heute sind 73 Prozent der Bevölkerung Mexicos übergewichtig. Diabetes ist erste Todesursache geworden im Land. Chile belegt den dritten Platz weltweit bei der Fettleibigkeit. Aber es hat die Führerschaft übernommen beim Widerstand gegen die Food-Multis.

Arte Film Dick, dicker, fettes Geld Fettleibigkeit Zucker
Chilenische Kinder lernen in der Schule, die Warnhinweise zu verstehen.

Chile weist den Weg gegen Fettsucht

Guido Girardi, chilenischer Senator und ehemaliger Kinderarzt, führt den Widerstand gegen die Food-Multis und ihre irreführende Werbung an. Gegen alle Widerstände von Politik und Industrie brachte er 2016 ein Gesetz durch, das wie eine Bombe einschlug. Es schreibt auf allen bedenklichen Produkten deutliche, schwarze Warnhinweise vor über den Gehalt an Zucker, Salz, Fett und Kalorien. Diese Produkte dürfen nicht beworben werden, nicht im TV und nicht im Internet. Girardi betont: «Irreführende Werbung verletzt die Rechte der Kinder und sämtliche internationalen Abkommen der vereinten Nationen zum Schutz der Gesundheit unserer Kinder. Wir bezichtigen diese Marken der Pädophilie, weil sie Kinder missbrauchen.»

Zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes war bereits eine positive Dynamik zu registrieren. Der Verkauf von Süssgetränken ging um 25 Prozent zurück. Und entgegen der ursprünglichen Behauptung der Industrie, die Zusammensetzung der Produkte erlaube keine Reduktion der problematischen Inhaltsstoffe, änderten die Produzenten bei 20 Prozent ihrer Waren die Rezeptur hin zum Positiven. Mit diesen Erfolgen ist Chile weltweit führend bei der Bekämpfung von schädlichem Junkfood. Bereits ziehen andere Länder in Südamerika nach: Peru, Uruguay und Mexiko.

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Guido Girardi, Senator und ehemaliger Kinderarzt, präsentiert 2016 die neuen, in Chile gesetzlich vorgeschriebenen Warnhinweise für gesundheitlich bedenkliche Produkte.

Die EU steht abseits. Die Investigativjournalistin Stéphane Horel von «Le Monde» sagt : «2011 wurde in Brüssel die Einführung einer klaren und verpflichtenden Lebensmittelkennzeichnung diskutiert. Die Industrie war natürlich dagegen und hat mehr als eine Milliarde Euro für Lobbyarbeit ausgegeben, um den verpflichtenden Charakter zu verhindern.» Mit Erfolg. Die Mitgliedstaaten müssen sich bis heute mit freiwilligen Logos herumschlagen und werden dabei noch mit Prozessen bedroht. Der auch in der Schweiz bekannte «Nutriscore» ist freiwillig, unspezifisch und stellt kein Warnetikett dar wie die in Chile vorgeschriebenen Kennzeichnungen.

Der Film steht in der Arte-Mediathek bis am 20. Mai 2023 zur Verfügung.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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