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Teil 6: Machtwechsel in Kiew

Published On: 13. Februar 2023 15:00

Ich werde drei Wochen lang an jedem Wochentag einen Teil der Chronologie der Ereignisse des Jahres 2014 veröffentlichen, die den Grundstein für den Krieg in der Ukraine gelegt haben.

Die Ereignisse des Jahres 2014 haben den Grundstein für die Eskalation in der Ukraine gelegt, zu der es vor fast einem Jahr gekommen ist. In meinem Buch über die Ukraine-Krise habe ich die Ereignisse des Jahres 2014 auf über 700 Seiten chronologisch dokumentiert. Da sich diese Ereignisse nun zum neunten Mal jähren, werde ich in den nächsten drei Wochen täglich ein Kapitel aus dem Buch als Leseprobe veröffentlichen.

In dieser 15-teiligen Serie werde ich die Chronologie der Ereignisse vom Beginn des Maidan Ende 2013 bis zum Beginn des Krieges im Donbass im April 2014 behandeln. Diese – heute fast vergessenen – Ereignisse haben den Grundstein für den Krieg in der Ukraine gelegt und sind zum Verständnis dessen, was sich heute ereignet, unverzichtbar.

In diesem sechsten Teil der 15-teiligen Serie geht es um die Todesschüsse des Maidan. In dem Buch sind alle Quellen angegeben.

Machtwechsel in Kiew – ab 21. Februar

In Kiew war es am 21. Februar deutlich ruhiger als am Vortag. Der Tag war geprägt von Verhandlungen zwischen Janukowytsch und der Opposition, an denen auch die Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreichs sowie der russische Vermittler Wladimir Lukin teilnahmen. Schon am frühen Morgen gab es Meldungen über eine Einigung, die jedoch immer wieder dementiert wurden, weil die Opposition immer wieder neue Nachverhandlungen forderte. Ihre zentrale Forderung nach einem sofortigen Rücktritt Janukowytschs konnte sie nicht durchsetzen. Bis es schließlich zur Unterschrift kam, mussten die westlichen Außenminister immer wieder gesondert mit der Opposition verhandeln und auch auf den Maidan fahren um den „Maidan-Rat“, einen Zusammenschluss aus den verschiedenen protestierenden Gruppen, zu überzeugen.

Die ukrainische „Vesti“ und der „Spiegel“ brachten zeitgleich die ersten Nachrichten über eine Einigung, „Vesti“ um 8.58 Uhr ukrainische Zeit und der „Spiegel“ um 7.56 deutsche Zeit, was aufgrund des Zeitunterschiedes von einer Stunde praktisch zeitgleich war. „Vesti“ titelte „Einigung über Ausweg aus der Krise auf der Bankova“ und der „Spiegel“ titelte „Krise in der Ukraine: Präsident Janukowitsch verkündet Einigung mit Opposition“ . Beide berichteten von einer Einigung und der geplanten Unterzeichnung um 12 Uhr Ortszeit, jedoch zeigte sich schnell, dass diese Hoffnung verfrüht war, denn um 10.16 Uhr veröffentlicht der „Spiegel“ einen neuen Artikel unter der Überschrift „Machtkampf in der Ukraine: EU-Diplomaten erwarten noch heute Kompromiss“ und schrieb „Das ukrainische Präsidialamt verkündet eine Lösung der Krise, doch die Opposition will nachverhandeln. Die EU zeigt sich vorsichtig optimistisch – im Lauf des Tages könnte ein Kompromiss stehen.“

Wie schwierig die Verhandlungen an dem Tag waren, kann man schon daran sehen, dass allein bei „Spiegel-Online“ an jenem Tag acht Artikel zum Stand der Verhandlungen, der Unterzeichnung und den zu erwarteten Folgen veröffentlicht wurden. Hinzu kamen allein beim „Spiegel“ noch zusätzliche Artikel zu Timoschenko und ihrer zu erwartenden Haftentlassung, auf die wir auch noch eingehen werden.

Während die Verhandlungen liefen und ständige Meldungen über Erfolge und anschließende Relativierungen die Nachrichten bestimmten, berichtete die ukrainische Zeitung „Timer“ am Mittag unter der Überschrift „Janukowitsch initiiert vorgezogene Präsidentschaftswahlen und die Rückkehr zur Verfassung von 2004“ und zitierte dort Janukowytsch mit den Worten „An diesen tragischen Tagen, an denen die Ukraine so schwere Verluste erlitten hat, an denen Menschen auf beiden Seiten der Barrikaden gestorben sind, sehe ich es als meine Pflicht an, im Gedenken an sie zu sagen: Nichts ist wichtiger, als Menschenleben. Wir müssen nun alle erdenklichen Schritte gehen, um den Frieden in der Ukraine wieder herzustellen … Ich erkläre, dass ich vorgezogene Präsidentschaftswahlen initiiere. Ich initiiere auch die Rückkehr zur Verfassung von 2004 mit einer Machtverschiebung zu Gunsten einer parlamentarischen Republik. Ich rufe dazu auf, eine Regierung des Nationalen Vertrauens zu bilden.“

Diese Erklärung wurde auch auf der Webseite des Präsidenten veröffentlicht.

Im Prinzip hatte Janukowitsch damit die wichtigsten Forderungen der Opposition erfüllt, mit Ausnahme seines eigenen sofortigen Rücktritts.

An dieser Stelle sei auch noch einmal an die unterschiedlichen Vorstellungen von Klitschko und Jazenjuk zur Verfassungsänderung erinnert. Die Rückkehr zur Verfassung von 2004, die nun angekündigt wurde, bedeutete nebenbei einen Sieg für Jazenjuk, der nun hoffen konnte, als zukünftiger Premierminister der mächtigste Mann in der Ukraine zu werden, nachdem die Verfassungsänderung den Präsidenten weitgehend entmachten würde. Warum Klitschko dem nun zustimmte, nachdem er noch vor einem Monat eine andere Position vertreten hatte, werden wir vielleicht nie erfahren. Tatsache ist aber, dass spätestens damit seine Tage als einer der führenden Politiker des Landes gezählt waren. Falls er dies überhaupt jemals gewesen war, denn die Wahlergebnisse seiner Partei und auch die Äußerungen von Experten wie Marina Weisband oder Gabriele Krone-Schmalz zeigten auf, dass er in der Ukraine nicht den Status genoss, den ihm die deutsche Presse in den Monaten des Maidan zugeschrieben hatte. Jedenfalls, soviel sei vorweggenommen, war er nun kein landesweit führender Politiker mehr und reihte sich später bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in die Reihe der Unterstützer von Poroschenko ein und wurde selbst „nur“ Bürgermeister von Kiew aber eben nicht Präsident, Premierminister oder auch nur Minister. In der Landespolitik war er von nun an weitgehend entmachtet.

Wie schwierig der Verhandlungen waren, zeigte ein Beitrag aus dem Newsticker des „Focus“ von dem Tag: „17.02 Uhr: Derzeit kursiert ein Video im Internet, das den polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski zeigt. Er ist dabei im Gespräch mit Vertretern der Opposition, noch vor der anschließenden Einigung zwischen den Aktivisten und Präsident Janukowitsch. Eindringlich warnt er die Ukrainer, dem Deal mit der Regierung zuzustimmen. „Wenn Ihr das nicht unterschreibt, wird das Kriegsrecht ausgerufen, dann kommt die Armee. Ihr werdet alle sterben!““

Das Video ist auf der Seite des „Focus“ ebenfalls zu sehen.

Leider ist der Text des Abkommens, das dann unterzeichnet wurde, nicht mehr auf Deutsch auf der Seite des Auswärtigen Amtes zu finden, es gibt dort nur noch die englische Version. Anscheinend sind die weiteren Entwicklungen dem deutschen Außenministerium so peinlich, dass es den deutschen Text des Abkommens von seiner Seite genommen hat.

Das Abkommen , welches schließlich um 16.00 Uhr Ortszeit unterschrieben wurde, im Wortlaut:

1 Dass innerhalb von 48 Stunden nach der Unterzeichnung des Vertrages ein Sondergesetz erlassen, unterzeichnet und verkündet wird, welches die Verfassung von 2004 wieder einführt. Die Unterzeichner erklären ihre Absicht, eine Koalition und innerhalb von zehn Tagen eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden
2 Den sofortigen Beginn der Arbeit zu einer Verfassungsreform, welche die Befugnisse des Präsidenten, der Regierung und des Parlaments neu regelt. Die Verfassungsreform soll im September 2014 abgeschlossen sein.
3 Vorgezogene Präsidentschaftswahlen finden statt, sobald die neue Verfassung angenommen wurde, jedoch nicht später als Dezember 2014. Neue Wahlgesetze werden verabschiedet und eine neue Zentrale Wahlkommission wird auf der Grundlage der Verhältnismäßigkeit und gemäß den Regeln der OSZE und Venedig-Kommissiongebildet werden.
4 Die gemeinsame Untersuchung der jüngsten Gewaltakte. Die Behörden werden dabei von der Opposition und dem Europarat überwacht.
5 Die Behörden werden den Ausnahmezustand nicht verhängen. Die Behörden und die Opposition werden die Anwendung von Gewalt unterlassen. Das Parlament wird eine dritte Amnestie erlassen, die Amnestie wird den gleichen Bereich illegaler Aktionen abdecken wie die Amnestie vom 17. Februar 2014. Beide Parteien werden ernsthafte Anstrengungen zur Normalisierung des Lebens in den Städten und Dörfern, durch den Rückzug aus Verwaltungs- und öffentlichen Gebäuden und durch Entsperren von Straßen, Parkanlagen und Plätzen, unternehmen. Illegale Waffen sollten dem Innenministerium innerhalb von 24 Stunden nach in Kraft treten des Sondergesetzes, gemäß Punkt 1 dieses Dokuments, übergeben werden. Nach dieser Frist fallen alle Fälle von illegalem Transport und Lagerung von Waffen wieder unter die Gesetze der Ukraine. Die Behörden und die Opposition werden die Konfrontation verringern. Die Regierung wird die Ordnungskräfte nur für den physischen Schutz von öffentlichen Gebäuden nutzen.
6 Die Außenminister von Frankreich, Deutschland, Polen und der Repräsentant des Präsidenten von Russland rufen dazu auf, die Gewalt und die Konfrontation sofort zu beenden.“

Heute wissen wir, dass dieses Abkommen von der damaligen Opposition und neuen Regierung in fast allen Punkten gebrochen wurde. Die in Punkt 2 geforderten Verfassungsreformen hat es bis heute nicht gegeben, lediglich die Verfassung von 2004 wurde in Kraft gesetzt. Die in Punkt 3 genannten vorgezogenen Präsidentschaftswahlen wurden abgehalten, ohne vorher eine neue Verfassung verabschiedet zu haben. Die Untersuchungen der „jüngsten Gewaltakte“, die in Punkt 4 vereinbart war, wurde ebenfalls bis heute nicht abgeschlossen, der Europarat meldet keine nennenswerten Fortschritte. Und die Entwaffnung der illegal bewaffneten Kräfte des Maidan wurde nie durchgeführt, wie wir noch sehen werden.

Aber das konnte zu diesem Zeitpunkt natürlich noch niemand wissen.

Die Reaktionen in der deutschen Presse waren daher einhellig positiv und vielzählig, praktisch jedes Medium vermeldete schnell die Einigung, jedoch nur wenige berichteten auch sofort von den Gegnern des Abkommens. Zumindest an diesem Tag entstand in Deutschland zunächst der Eindruck, dass das Schlimmste nun vorbei wäre.

Die russischen und ukrainischen Medien thematisierten das Abkommen weit weniger, dort lag der Fokus auf der Gefahr weiterer Gewalt von Seiten der radikalen Gegner des Kompromisses und auf anderen Entwicklungen, wie den vorgezogenen Wahlen, Rücktritten von Beamten, Politikern, die die Regierungspartei von Janukowitsch verließen und ähnlichem.

Wieder war der schon zitierte Newsticker der „Vesti“ am schnellsten und verkündete um 16.00 Uhr Ortszeit: „Die Bewegung Rechter Sektor, der radikale Flügel des Maidan, bezeichnet die Ankündigung von Janukowitsch, vorzeitige Neuwahlen abhalten zu lassen als „Augenwischerei“ und erklärte, die Nationale Revolution fortzusetzen“ Und erst fünf Minuten später kam die Meldung: „Die drei Oppositionsführer Arsenij Jazenjuk, Vitali Klitschko und Oleg Tjahnybok unterschreiben mit Präsident Janukowitsch eine Vereinbarung zur Beilegung der Krise in der Ukraine“

Die Reaktionen auf die Vereinbarung waren dann etwas später auch in Deutschland nicht mehr überall so hoffnungsvoll, wie in den ersten Berichten. Die ersten Berichte über die Kritiker der Vereinbarung erschienen in Deutschland am späten Abend. Dort wurde die kategorische Ablehnung des Abkommens durch den Rechten Sektor thematisiert. So titelte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am Abend „Ein Land im Umbruch“ und schrieb: „Pfiffe und Buhrufe: Einige aufgebrachte Demonstranten sind dennoch nicht zufrieden. Als Vitali Klitschko die Entwicklungen des Tages auf dem Maidan als „sehr wichtig“ beschreibt, bricht die Menge in ein Pfeifkonzert aus. Ein maskierter Mann stürmt ans Mikrofon und fordert Janukowytschs Rücktritt bis Samstagmorgen um 10 Uhr. „Sonst greifen wir mit Waffen an!““

Auch der „Spiegel“ schrieb spät am Abend unter dem Titel „Proteste in Kiew: Radikale stellen Janukowitsch Ultimatum“ detaillierter über den Widerstand des Rechten Sektors: „Aufgebrachte Demonstranten in Kiew haben die Einigung der Opposition mit der Regierung am Freitagabend abgelehnt. Dmitrij Jarosch, Anführer der radikalen Splittergruppe Rechter Sektor, kündigte auf dem Maidan an, die Waffen nicht niederzulegen, bevor Präsident Wiktor Janukowitsch nicht zurücktrete. Nationalistische Aktivisten bekamen Applaus für ihre Ankündigung, am Samstagvormittag das Präsidialamt zu stürmen, falls Janukowitsch bis dahin nicht gegangen sein sollte. Tausende Demonstranten auf dem Maidan riefen „Tod dem Verbrecher!““

Die „Neue Züricher Zeitung“ schrieb am 22. Februar unter der Titel „Ungewissheit bis zum Schluss“ in einem kurzen Artikel von dem Hin und Her des 21. Februar und führte aus: „Noch am Nachmittag stimmte die Werchowna Rada für die Absetzung von Innenminister Sachartschenko – und leitete auch die Umsetzung weiterer Punkte des Abkommens in die Wege. Der «Rechte Sektor», eine weitere radikale Gruppierung der Aktivisten, erklärte allerdings, weiter für die Absetzung Janukowytschs kämpfen zu wollen. Auch auf russischer Seite scheinen nicht alle Fragen ausgeräumt. Anders als die EU-Vertreter Steinmeier und Sikorski unterschrieb der russische Unterhändler Lukin das Abkommen zwischen Opposition und Regierung nicht.“

Hier fehlte der Hinweis, dass auch der französische Außenminister nicht unterschrieb, da er vor der Unterzeichnung nach China weiterreiste.

Schon am 21. Februar hatte auch die „Deutsche Welle“ unter der Überschrift „Steinmeier: Über Ukraine nicht zu früh freuen“ geschrieben, dass Russland nicht unterschrieben hatte: „Putin hatte zu den Verhandlungen in Kiew einen eigenen Vermittler entsandt. Der Diplomat Wladimir Lukin unterzeichnete das ausgehandelte Abkommen allerdings nicht. Dies bedeute aber nicht, dass Russland nicht an einem Kompromiss interessiert sei, sagte Lukin. … Russlands Außenminister Sergej Lawrow forderte die EU in einem Telefonat mit Ashton auf, die „radikalen Kräfte“ zu verurteilen, die für den Gewaltausbruch und die Todesopfer in der Ukraine verantwortlich seien.“

Die Antwort auf die Frage, warum der russische Vertreter Lukin seine Unterschrift verweigerte, gab das Internetportal „news.ru“, welches unter „Lukin erklärte, warum Moskau die Anti-Krisen-Vereinbarung nicht unterschrieb“ von einem Fernsehinterview bei „Rossia 1“ vom 22. Februar berichtete . Dort warf Lukin die Frage auf, warum Ausländer überhaupt eine innerukrainische Vereinbarung unterschreiben sollten und welche Rolle sie dabei spielten und fragte: „„Inwieweit kontrollieren diese drei Leute (die EU-Außenminister) die Situation?“ Er wies darauf hin, dass es jetzt wichtig sei, die Bedingungen zu erfüllen: entwaffnen und die Straßen räumen. „Darum in einer solchen Situation eine Vereinbarung zu unterschreiben, bei der man nicht weiß, welche Personen und Kräfte diese dann umsetzen sollen … Werden das dann Deutschland zusammen mit Frankreich und Polen realisieren? Die brennen auch nicht gerade vor Freude darauf“ (gemeint ist die Verantwortung für die Umsetzung des Abkommens, Anm. d. Verf.) erklärte er. In dieser Situation unterstrich er, eine solche Vereinbarung zu unterschreiben, sei nicht zielführend. Obwohl die Vereinbarung selbst ein Kompromiss gewesen sei, der „irgendeinen friedlichen Weg“ freimachen könnte, wie er hinzufügte. „Leider ist der Weg aber bisher nicht realisiert““

Bundesaußenminister Steinmeier lobte Lukin am 22. Februar für seine Mitarbeit, wie der „Spiegel“ unter dem Titel „Ukraine Vermittlung: Steinmeier lobt Russland“ schrieb: „Bundesaußenminister Steinmeier lobt Russlands Rolle bei den diplomatischen Verhandlungen in der Ukraine. Der Emissär von Präsident Wladimir Putin habe sehr konstruktiv mitverhandelt, sagte der SPD-Politiker dem SPIEGEL: „Der russische Vertreter hat Brücken bauen geholfen und immerhin den Text paraphiert.““

Die russischen und ukrainischen Medien meldeten an diesem Tag auch viele andere politische Ereignisse. So traten viele Politiker aus der „Partei der Regionen“ von Präsident Janukowytsch aus, einige hochrangige Beamte legten ihre Ämter nieder und die Rada brachte im Eiltempo die Verfassungsänderung auf den Weg und erließ ein Gesetz, dass die Freilassung von Julia Timoschenko ermöglichte. Außerdem wurden alle Ordnungskräfte aus Kiew abgezogen.

Bei der Berichterstattung über das Abkommen jedoch überwogen bei russischen und ukrainischen Medien die Bedenken, ob damit die Gewalt ein Ende hätte, denn der bewaffnete und radikale Rechte Sektor wollte es nicht anerkennen.

Schon um 16.06 Uhr, also zum Zeitpunkt der Unterzeichnung, brachte die ukrainischen „RBK“ einen Artikel mit der Überschrift „Rechter Sektor unzufrieden mit dem Abkommen“, der heute nicht mehr im Netz steht, und zitierte eine Erklärung des Rechten Sektors: „Wenn wir die Erklärung von Janukowitsch lesen, müssen wir als offensichtliche Fakten konstatieren, dass das verbrecherische Regime das Ausmaß seiner Bosheit noch nicht ausreichend realisiert hat.“

Später am Abend berichtete das ukrainische Portal „comments.ua“ in einem Artikel, der ebenfalls nicht mehr online ist: „Auf der Bühne des Maidan erklärte Jarosch, dass der Rechte Sektor die Waffen nicht niederlegt und die besetzten Gebäude nicht räumt, solange die „wichtigste Forderung, der Rücktritt Janukowytschs“ nicht erfüllt ist“

In der Nacht stürmten die Kämpfer des rechtsextremen Rechten Sektors dann das Regierungsviertel, da dies nach dem Abzug der Polizei aus Kiew nun unbewacht war. Darüber berichtete noch in der Nacht die „Ukrainskaya Prawda“ unter der Überschrift „Parubij: Der Maidan kontrolliert nun ganz Kiew“ und schrieb über einem Auftritt Parubijs auf dem Maidan, bei dem er verkündete, dass nun das Regierungsviertel und diverse andere Gebäude von den „Selbstverteidigungskräften“ besetzt seien, wobei diese zu diesem Zeitpunkt bereits paramilitärisch organisiert waren, wie schon Wochen vorher immer wieder gemeldet wurde, denn er benannte die jeweils aktiven „Hundertschaften“ mit ihren Nummern: „Die 15. Hundertschaft (bewacht) das Innenministerium. Wir haben den Polizisten gesagt, dass sie die Seiten wechseln können. Und wir sind bereit, zusammen mit ihnen zu patrouillieren, aber sie müssen ein gelb-blaues Band anlegen. Dann gehören sie zu uns und dienen dem Maidan“ erklärte der Kommandant“. Auch dieser Artikel ist nicht mehr online.

Am 22. Februar tagte die Rada unter turbulenten Bedingungen. Nachdem sich die Polizei am Vortag zurückgezogen und in der Nacht die Selbstverteidigungskräfte des Maidan das Regierungsviertel gestürmt hatten, mussten die Abgeordneten auf dem Weg in die Rada durch Gruppen bewaffneter und mit Metallschilden ausgerüsteter Maskierter gehen. An der Sitzung der Rada nahmen nur 258 von 450 Abgeordneten teil, was sich auch mit der Einschüchterung durch die maskierten Bewacher der Rada erklären lässt.

Westliche Medien berichteten zwar über diese Bewachung, unterließen es aber, die Frage aufzuwerfen, ob hier nicht möglicherweise eine Einschüchterung der Abgeordneten vorlag und ob Abstimmungen unter solchen Umständen überhaupt anerkannt werden können. Dass diese Frage durchaus berechtigt ist, zeigt folgender Vergleich: Man stelle sich einmal vor, die Abgeordneten des Bundestages müssten vor einer wichtigen Abstimmung durch die Reihen von maskierten und bewaffneten Autonomen oder Hooligans gehen, die sich auch in den Gängen des Bundestages und im Plenarsaal selbst aufhalten, während gleichzeitig keinerlei Polizei anwesend ist. Dass Abgeordnete, die Positionen vertreten, die den Maskierten nicht gefallen, einer solchen Sitzung fernbleiben bzw. aus Angst so abstimmen, wie es die Maskierten wollen, dürfte nicht überraschen. Ob dann aber die Ergebnisse solcher Abstimmungen legitim sind, wenn Teile der Abgeordneten aus Angst nicht erscheinen oder möglicherweise nicht frei abstimmen können, ist eine berechtigte Frage.

Dass kaum mehr als die Hälfte der Abgeordneten anwesend war, wurde in Deutschland nicht thematisiert. Der „Spiegel“ schrieb dazu an jedem Tag unter der Überschrift „Der Nachrichtenüberblick: Janukowitsch verliert die Macht“ und brachte Fotos von den Bewachern des Parlaments . Im Artikel hieß es dazu lediglich: „Sogenannte Selbstverteidigungskräfte bewachen das Parlament, den Regierungssitz und die Präsidialkanzlei im Zentrum der Hauptstadt“

Auch im Newsticker des „Spiegel“ gab es keine Berichte über die Einschüchterung der Abgeordneten. Gleiches galt auch für alle anderen Medien. Stattdessen wurde an jenem Tag überall die Frage aufgeworfen, wo Janukowitsch untergetaucht war.

Russische und ukrainische Medien hingegen berichteten über Einschüchterungen der Abgeordneten. So schrieb z.B. die ukrainische „Lenta“ am 23. Februar unter der Überschrift „Abgeordnete der Swoboda haben Donja zusammengeschlagen“ und führte aus: „Die Abgeordneten Juri Sirotjuk und Leonti Martynjuk der Fraktion der Swoboda haben den fraktionslosen Abgeordneten Alexander Donja zusammengeschlagen. Das berichtet ein Mitarbeiter des Opfers, wie UNN mitteilt. Die Attacke fand am Samstag dem 2 Februar auf der Toilette der Rada statt. Nach Angaben seines Mitarbeiters liegt Donja mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus.“

Auch die russische Zeitung „nakanune“ berichtete über die Vorfälle. Sie schrieb am 26. Februar in einem langen Artikel unter der Überschrift „Warum die Kiewer Regierung nicht als legitim bezeichnet werden kann“ über die Vorkommnisse, die zu dem Regierungswechsel geführt haben und führte aus: „“Ich rief meinen Freund Vitali Gruschevski an“ berichtete am 22. Februar der Abgeordnete Oleh Zarjow „er antwortete nicht. Dann rief ich seinen Mitarbeiter an, der mir erzählte, dass Vitali Gruschevski vor dem Parlament zusammengeschlagen worden ist. Einigen Abgeordneten wurden die Stimmkarten abgenommen und diese Karten werden bei Abstimmungen benutzt. … Im Saal fehlen auch Simonenko und viele andere vorher zusammengeschlagene Abgeordnete“ … „Die Abgeordneten der Kommunistischen Partei sind von Kämpfern des „Euromaidan“ festgesetzt worden“, teilt der Politologe Konstantin Dolgov auf seiner Facebook Seite mit. „Die Fraktion der Kommunistischen Partei ist im Moment in Gefangenschaft der Eurofaschisten! Im Parlament wird heute mit ihren Karten abgestimmt, aber das sind nicht sie selbst. Viele, einschließlich Simonenko, sind zusammengeschlagen worden. …“ schrieb Dolgov. Die Information wird von dem Politologen Vladimir Kornilov bestätigt, der in seinem Blog die Frage stellt, warum den ganzen Samstag bei Abwesenheit der Abgeordneten mit ihren Stimmkarten abgestimmt wurde. „Wer hat im Saal Petr Simonenko, Alexander Goluba und andere Abgeordnete der Kommunisten gesehen?“ fragt Kornilov „Auf den Plätzen der Kommunisten saßen den ganzen Tag maximal 7-8 Leute (Sie können sich auf dem Foto davon überzeugen) … Aber sehen Sie die Abstimmungsergebnisse! Für die Einsetzung von Turtschynow, für die Freilassung von Timoschenko, für die Absetzung Janukowytschs haben über 30 Abgeordnete der Kommunisten gestimmt, einschließlich der abwesenden Simonenko und Goluba“ Zur Bestätigung seiner Worte hat Kornilov ein Foto der Sitzung vom 22. Februar gepostet, auf dem die leeren Sitze der Kommunisten zu sehen sind. Aber das Sitzungsprotokoll vermerkt bei fast allen Abstimmungen über 30 Stimmen der Kommunisten.““

Es folgten noch weitere Berichte über Unregelmäßigkeiten und Verstöße gegen das Parlamentsreglement und andere Angriffe auf Abgeordnete, darunter der schon erwähnte Herr Donja. Dann folgte: „„Und Oleh Zarjow schreibt am 24. Februar: „Die freie Meinungsäußerung vieler Abgeordneter muss ernsthaft angezweifelt werden. Abgeordnete der Partei der Regionen und ihre Familien wurden bedroht, sie sind verängstigt. Die Leute werden unter Druck gesetzt““

Man könnte dies als übertriebene russische Propaganda abtun, zumal sich hiervon nichts in den westlichen Medien fand. Aber ausgerechnet das schon erwähnte abgehörte Telefonat zwischen Catherine Ashton und dem estnischen Außenminister Urmas Paet bestätigt diese Meldungen. Paet erwähnte gegenüber Ashton, dass Abgeordnete auch noch Tage später auf der Straße vor dem Parlament zusammengeschlagen wurden und Ashton schien darüber nicht überrascht zu sein. Auch über bewaffnete Maskierte, die im Regierungsviertel patrouillierten und sicher keine Polizisten waren, sprach er.

Jedenfalls stimmte die Rada an diesem Tag einer ganzen Reihe von Gesetzen zu, unter anderem der Freilassung Timoschenkos als auch der Absetzung Janukowytschs.

Die Absetzung Janukowytsch wird bis heute von Putin als „bewaffnete Machtergreifung“ oder „verfassungswidriger Staatsstreich“ bezeichnet. Daher lohnt sich ein Blick in die ukrainische Verfassung , um zu prüfen, ob dies Propaganda oder zumindest teilweise wahr ist. Artikel 108 regelt, unter welchen Umständen eine Präsidentschaft vorzeitig enden kann und nennt vier Gründe: „1) Rücktritt; 2) Verhinderung der Amtsausübung aus gesundheitlichen Gründen; 3) Amtsenthebung in einem Amtsenthebungsverfahren; 4) Tod“.

Da Janukowitsch einen Rücktritt abgelehnt hatte, gesundheitliche Gründe nicht vorlagen und er nicht gestorben war, musste er gemäß Verfassung per Amtsenthebungsverfahren abgesetzt werden. Dies wird in Artikel 111 geregelt: „Der Präsident der Ukraine kann wegen des Begehens von Hochverrat oder eines anderen Verbrechens vom Parlament der Ukraine in einem Amtsenthebungsverfahren vorzeitig des Amtes enthoben werden. Die Frage der Amtsenthebung des Präsidenten der Republik in einem Amtsenthebungsverfahren wird von der Mehrheit der durch die Verfassung bestimmten Anzahl der Mitglieder des Parlaments der Ukraine initiiert.“

Anschließend wird das Prozedere definiert: Einrichtung einer Untersuchungskommission mit Staatsanwalt und Sonderermittler, dann muss auf Basis der Untersuchung ein Beschluss über eine Anklageerhebung fallen, dann ist eine Prüfung der Angelegenheit durch das Verfassungsgericht vorgesehen und erst danach eine Abstimmung in der Rada, bei der mindestens 75% der Abgeordneten für die Amtsenthebung stimmen müssen. Interessanterweise bezog sich die Rada dann in ihrem Gesetz zur Absetzung von Janukowitsch auf den Artikel 112 der Verfassung, der aber nichts mit der Amtsenthebung zu tun hat, sondern nur regelt, dass der Premierminister in der Übergangszeit bis zur Wahl eines neuen Präsidenten die Amtsgeschäfte führt. Wobei hier zu beachten ist, dass dies ab 1996 galt, 2004 geändert wurde, diese Änderung aber vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde, womit wieder die ursprüngliche Version von 1996 in Kraft trat.

Auch gegen diesen Artikel verstieß die Rada übrigens, indem sie nicht den (amtierenden) Premierminister zum Übergangspräsidenten ernannte, sondern den gerade neu eingesetzten Parlamentspräsidenten Turtschynow, der damit seine Ernennung gleich selbst unterschreiben konnte. Um dies verfassungskonform aussehen zu lassen, setzte sie sich über die Entscheidung des Verfassungsgerichtes von 2010 hinweg und hob die Entscheidung kurzerhand auf.

Da an jenem Tag jedoch nur eine Abstimmung zur Amtsenthebung stattfand, ohne die in der Verfassung vorgesehenen Vorbereitungen (Untersuchungskommission, Bericht, Prüfung durch Verfassungsgericht, etc.), muss die Absetzung Janukowitsch als verfassungswidrig bezeichnet werden. Hinzu kommt, dass die in der Verfassung vorgesehene Mehrheit von 75% der Stimmen für eine Absetzung nicht erreicht wurde. Für seine Absetzung stimmten 328 der 450 Abgeordneten, das sind allerdings nur 73%. Daher wurde objektiv das Amtsenthebungsverfahren verletzt, die nötige Mehrheit im Parlament nicht erreicht und sich in dem Gesetz über die Absetzung auch noch auf einen Artikel der Verfassung berufen, der mit Absetzung des Präsidenten nichts zu tun hat. Das sind drei objektive Brüche der Verfassung, weshalb die Absetzung Janukowytschs nach den Buchstaben des Gesetzes illegal und ein Bruch der Verfassung war.

Dies thematisierte der „Spiegel“ am 6. März in seiner Rubrik „Münchhausen-Check“ und setzte sich mit der Argumentation Russlands auseinander, dass Putin Janukowytsch noch als Präsidenten sah und die neue Regierung „illegitim“ nannte . Dabei kam der Spiegel zu dem Fazit: „Betrachtet man den Präsidentschaftswechsel in der Ukraine „rein juristisch“, hat Putin recht. Eine andere Frage ist, inwieweit diese Sicht in revolutionären Zeiten politisch maßgeblich ist – und es ist eine noch andere, ob Putin einen glaubwürdigen Anwalt des Rechtsstaats abgibt. Note: dennoch ein Gut“

Ob man der Argumentation des „Spiegel“ folgen möchte, dass in „revolutionären Zeiten“ Verfassung und Gesetze eines Landes vernachlässigt werden können, darf jeder für sich entscheiden. Da sich der Westen und mit ihm die deutschen Medien und Politiker jedoch im weiteren Verlauf des Konfliktes immer wieder auf die ukrainische Verfassung beriefen, wenn es z.B. um die Abspaltung der Krim ging, stellt sich die Frage, warum die Verfassung bei den „revolutionären Zeiten“ in Kiew vernachlässigt werden konnte, aber in den „revolutionären Zeiten“, die danach auf der Krim anbrachen jedoch geachtet werden sollte. Auch spielt es bei der Analyse dieser Frage kaum eine Rolle, ob man in „Putin einen glaubwürdigen Anwalt des Rechtsstaats“ sehen kann oder nicht. Eine berechtigte Frage, wie die nach der Einhaltung der ukrainischen Verfassung, wird nicht dadurch entwertet, dass sie von Leuten gestellt wird, die einem möglicherweise politisch unsympathisch sind. Die Frage selbst bleibt berechtigt und es stellt sich eher die Frage, warum die westlichen Medien dieser Frage nicht energischer nachgegangen sind, wo sie doch sonst stets – völlig berechtigt – die Einhaltung von Recht und Gesetz einfordern.

Auch die „Huffington Post“ kam am 10 März zu dem gleichen Ergebnis wie der „Spiegel“ in seinem „Münchhausen-Check“, als sie über die Unterstützung der neuen Regierung durch die britische Regierung berichtete . Dabei zitierte sie zunächst Außenminister William Hague: „Ex-Präsident Janukowitsch hat erst seinen Posten und dann das Land verlassen und die Entscheidung, ihn durch den Übergangspräsidenten zu ersetzen wurde von der Rada getroffen, mit einer großen Mehrheit, auch aus seiner eigenen Partei, wie von der Verfassung verlangt, daher ist es falsch, die Legitimierung der neuen Regierung in Frage zu stellen“

Danach kommentierte die Zeitung: „Das erweckt den Eindruck, als wären die Prozeduren, die die ukrainische Verfassung für eine Amtsenthebung des Präsidenten vorschreibt, eingehalten worden, obwohl dies in Wahrheit nicht der Fall ist und daher ist die neue Regierung in Kiew illegitim“

Inzwischen wird oft argumentiert, dass Janukowytschs Flucht aus Kiew eine Ausnahmesituation geschaffen hätte, in der man ihn auf diesem Wege absetzen konnte. In der Verfassung ist dies nicht vorgesehen. Und wenn ein Präsident oder eine Regierung mit Waffengewalt aus der Hauptstadt oder gar dem Land vertrieben wird, ist dies in jedem Land der Welt etwas, was als „Putsch“ bezeichnet wird. So etwas dann als quasi-juristische Rechtfertigung zu nutzen, ist – gelinde gesagt – eine abenteuerliche Argumentation.

Die weiteren Nachrichten an diesem Tag beschäftigten sich mit der Freilassung Timoschenkos, die am gleichen Abend noch auf dem Maidan eine Rede hielt, in der sie zur Fortsetzung des Kampfes aufrief.


In meinem neuen Buch „„Putins Plan – Mit Europa und den USA endet die Welt nicht – Wie das westliche System gerade selbst zerstört ““ gehe ich der der Frage, worum es in dem Endkampf der Systeme – den wir gerade erleben – wirklich geht. Wir erleben nichts weniger als den Kampf zweier Systeme, in dem Vladimir Putin der Welt eine Alternative zum neoliberalen Globalismus anbietet. Wurden die Bürger im Westen gefragt, ob sie all das wollen, ob sie zu Gunsten des neoliberalen Globalismus auf ihren Wohlstand und ihre Freiheiten verzichten wollen?

Das Buch ist aktuell erschienen und ausschließlich hier direkt über den J.K. Fischer Verlag bestellbar.

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