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Gedanken eines Hausarztes zur jetzigen Pandemiephase

Published On: 14. Februar 2022 0:20

Veröffentlicht am 14. Februar 2022 von RL.

(auszugsweise)

«Die Pandemie ist vorbei», titelte am 20. Januar 2022 die Weltwoche und hinterlegte diese Aussage mit einem berühmten Foto von Alfred Eisenstaed, welches die ausgelassene Atmosphäre am New Yorker Times Square nach der Kapitulation von Japan im August 1945 eingefangen hat.

Mit dieser Verknüpfung will sicherlich ausgedrückt werden, dass die jetzige Phase dem Ende eines langen Krieges ähnelt. Tatsächlich weckt auch in mir die derzeitige Pandemiesituation viele Erinnerungen an die Erzählungen meiner Eltern, wie sie als Kinder in einem süddeutschen Dorf das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt haben.

Eine Zeitlang, so berichteten sie und ältere Dorfbewohner, befand man sich in einem eigenartigen Mix von Hoffnung und Sorge, was jetzt kommen wird, von Freude, dass der Krieg vorbei ist, und von Schmerz und Enttäuschung, dass man besiegt wurde. Über allem schwebte die Ahnung, dass es ein sinnloser Krieg war und dass man einem Betrug aufgesessen war, mit entsprechenden Scham- und Wutgefühlen in Kombination mit Unverständnis und Hilflosigkeit. «Wie konnte es so weit kommen, und wie könnte man es in Zukunft besser machen?»

Ideologie und Kriegsziele waren damals untrennbar miteinander verknüpft. Den Krieg zu verlieren war gleichbedeutend mit dem Eingeständnis eines Versagens der Ideologie. Jenen Dorfbewohnern, welche sich stark mit der herrschenden Ideologie identifiziert hatten, fiel es besonders schwer, zu kapitulieren, sich also endgültig vor einer überlegeneren Gewalt zu beugen.

Ihr Verhalten nahm immer groteskere Züge an. Beinahe wäre mein Grossvater unmittelbar vor Kriegsende noch am Galgen gelandet, sozusagen als Verschwörungstheoretiker, denunziert durch seinen regierungstreuen Nachbarn, nur weil er ihm geraten hatte, keine Panzersperre aus Baumstämmen mehr aufbauen zu wollen gegen die in den nächsten Tagen einmarschierende französische Besatzung.

Wie schade, wenn mein Grossvater in diesem Stadium noch einer bereits als ins Elend führend entlarvten Ideologie zum Opfer gefallen wäre. Die tiefen Klüfte innerhalb des Dorfes, verursacht durch Fanatismus, wären noch grösser geworden. Die «Panzersperre» wurde übrigens doch noch errichtet. Mit ein paar Granaten wurde sie weggefegt, ohne den Vormarsch nur im Geringsten aufzuhalten. Leider kam es hierbei auch zu Toten bei den Dorfbewohnern, was vermeidbar gewesen wäre. Zusätzlicher Schaden wurde angerichtet, nur weil die Machthabenden den Punkt nicht gefunden haben.

Aus meiner Sicht bringt uns die jetzige Pandemiephase in eine ganz ähnliche Situation. Man spürt erleichtert, dass die unmittelbare Bedrohung durch das SARS-Coronavirus-2 nachlässt und dass es Lockerungen gibt, sieht aber auch immer deutlicher, wie beispielsweise die Aufrechterhaltung der Impfempfehlungen für Kinder nicht mehr einem Kriegsziel, sondern nur noch einer Ideologie dient – ein illusorisches Bollwerk weit sinnloser und schädlicher als eine «Panzersperre» aus ein paar Baumstämmen. Die Aufrechterhaltung solcher zwecklosen Massnahmen durch die Entscheidungsträger trägt zu neuer Beklemmung bei.

Man spürt auch Sorge und Schmerz über die Spaltungen in der Gesellschaft und über die gähnenden Abgründe der immer noch ungelösten «Kriegs»-Ursachen. Den Impuls, eine allenfalls unliebsame Aufarbeitung zu umgehen und nun einfach «Schwamm drüber» und die Rückkehr zur «alten Normalität» anzustreben, kann ich gut verstehen. Doch dann sehe ich einen sehr faulen Frieden voraus, welcher nicht von langer Dauer sein kann. In dieser Atmosphäre und mit den Erzählungen meiner Eltern und weiterer Dorfbewohner im Hinterkopf drehen sich meine Gedanken jetzt am Ende des «Krieges» gegen das Corona-Virus um die Fragen:

Wie kann unnötiger weiterer Schaden verhindert werden? Wie können wir die Gefahren von Ideologien erkennen und uns in Anbetracht dieser permanenten menschlichen Schwäche angemessen verhalten? Wie können wir zur Heilung der tiefen Spaltung in der Gesellschaft beitragen? Wie können wir uns auf neue Art ausrichten, sodass die «Kriegsgefahr» nachhaltig gesenkt werden kann? Wie können wir durch eine tiefergehendere Aufarbeitung ein Verständnis dafür entwickeln, mit welchem sich eine neue, stabilere Normalität erreichen lässt, als die alte Normalität, auf deren Boden eine mehr als zwei Jahre andauernde Pandemie möglich wurde?

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Matthias Gauger ist Hausarzt in Muotathal im Kanton Schwyz. Diesen Beitrag, den Corona-Transition mit freundlicher Genehmigung übernehmen durfte, veröffentlichte Gauger Ende Dezember. Den ganzen Text lesen Sie hier.

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