Die Wahrheit – meine Fragmente

Veröffentlicht am 5. Januar 2023 von LK.

Wahrheit wird oft als Gegensatz zu Lüge und Täuschung verstanden oder zur Fantasie. Wie oft lügen wir täglich, sagen nur die halbe Wahrheit, weil sich unsere Schutzpersönlichkeit (Ego) dahinter verbergen will? Wie oft sind wir irritiert, enttäuscht oder wenden uns von anderen ab, wenn wir spüren, dass sie uns nur die halbe Wahrheit sagen?

Wer sich im Besitz der Wahrheit fühlt, schliesst in der Praxis eine andere Sicht aufs Thema aus. Sich darauf zu berufen, die Wahrheit zu wissen, trägt die Gefahr in sich, sich legitimiert zu fühlen, das Gegenüber strafen, sanktionieren, mit ihm Krieg führen zu dürfen, also letztlich unmenschlich zu sein. Die Erkenntnisse der Wissenschaften wie Biologie, Chemie, Physik, Psychologie und Wirtschaftswissenschaften werden nicht als der momentane Zustand des Irrtums der Forschung gesehen, sondern als die Wahrheit aufgenommen.

Da sich deren Vertreter als alleinige Inhaber der Wahrheit gebärden, gibt man ihnen die Legitimation zu tiefgehenden Entscheidungen, was der Menschheit auch durchaus leidvolle Erfahrungen beschert (wie bei den Massnahmen bei C-Phänomen). Davon auszugehen, dass das, was ich als Wahrheit sehe, meine momentane persönliche Wahrheit ist, macht mich offen dafür, die Wahrheit der anderen zu hören, zu erfragen und auszutauschen, also meine Wahrheit zu erweitern.

Es hilft mir auch, meine Glaubenssätze immer wieder zu hinterfragen und zu revidieren, was sehr lebensförderlich sein kann. Die Seele weiss die Wahrheit, weiss von deren Vielgestaltigkeit. Da sie nicht wertet, sondern das Leben einfach mit einem grossen liebenden Auge betrachtet, dreht sie niemandem einen Strick daraus. Obwohl Märchen, Mythen, Fabeln und Sagen nicht wahr sind, enthalten sie viel Wahrheit über urmenschliche Themen.

Auch wenn sich das in «Die unendliche Geschichte» Erzählte nie zugetragen hat, ist es doch auf seine Weise sehr wahr. Literatur als pure Fiktion fasziniert ihre Leser auch deswegen, weil sie so vieles entdecken, das sie als wahr empfunden, selber aber die Worte dafür noch nicht gefunden haben. Mit dem Benennen wird es für die Leser «wahrer».

Ingeborg Bachmann sagte 1959 in ihre Dankesrede zum Hörspielpreis der Kriegsblinden (!): «Es kann nicht die Aufgabe des Schriftstellers sein, den Schmerz zu leugnen, seine Spuren zu verwischen, über ihn hinwegzutäuschen. Er muss ihn im Gegenteil wahrhaben und noch einmal, damit wir sehen können, wahrmachen. Denn wir wollen alle sehend werden. Jener geheime Schmerz macht uns erst für die Erfahrung empfindlich und insbesondere für die der Wahrheit. Wir sagen dann: Mir sind die Augen aufgegangen. Wir begreifen, was wir doch nicht sehen können. Das sollte die Kunst zuwege bringen, dass uns in diesem Sinn die Augen aufgehen.»

Sie spricht davon, dass der Schriftsteller auf ein Du ausgerichtet sei, die menschlichen Hoffnungen, Leidenschaften und Kümmernisse sammle, also sozusagen das Menschliche erforsche und das Menschliche erforsche und den Lesenden Erfahrungen der Menschen zukommen lassen wolle. Dieser Gedanke kulminiert in «Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar». In Henrik Ibsens Stück «Die Wildente» – 1885 uraufgeführt – beruhen die Beziehungen unter den Hauptfiguren auf Lebenslügen.

Gut gemeint und wahrheitsfanatisch, deckt Gregers seinem Freund Hjalmar dessen Lebenslüge auf – und bewirkt damit den Suizid einer dritten Person. In Kleists Erzählung «Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten» geht es darum, dass das, was unwahrscheinlich erscheint, wahr ist, und was wahrscheinlich zu sein scheint, nicht. Die Wahrscheinlichkeit ahmt lediglich die Wahrheit nach. In der Erzählung unterhält ein Offizier seine Zuhörer mit drei äusserst unwahrscheinlichen Geschichten, von deren Wahrheit er selbst überzeugt ist.

Da der Offizier, wie uns vom Erzähler mitgeteilt wird, als ein schätzenswürdiger Mann bekannt ist, der sich der Lüge niemals schuldig gemacht hat, müssen die drei Geschichten zumindest nach bestem Wissen und Gewissen des Offiziers als wahr gelten. Aufgrund seiner allgemein bekannten Vertrauenswürdigkeit ist es wahrscheinlich, dass seine Zuhörer ihm glauben werden. Daher sichern sie ihm diesen Glauben im Voraus zu. Hier tritt bereits eine logische Zwickmühle zutage: Sie schliessen aus der Wahrscheinlichkeit, dass der Offizier wahre Geschichten erzählen wird, auf die tatsächliche Wahrheit dieser Geschichten.

Wie oft unterliegen wir dieser Täuschung in unserem Alltag! Nitzsche zerpflückte in Wille zur Macht die seit Sokrates bestehende Trias «das Schöne, Wahre, Gute» mit den Worten: «Einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen: Das Gute und das Schöne sind Eins. Fügt er gar noch hinzu ‹auch das Wahre›, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist hässlich: Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.»

Für mich ist Wahrheit ein Strauss voller unterschiedlicher, zusammen harmonierender Blumen, die alle einen Aspekt der grossen Wahrheit repräsentieren.

Weitere Artikel zu dem Thema:

https://transition-news.org/wahrheitsfindung-in-einer-komplexen-welt

https://transition-news.org/das-andere-wort-zum-sonntag-oder-narren-und-ihre-wahrheit

https://transition-news.org/im-maschinenraum-der-wahrheit

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Barbara Wili ist pensionierte Berufsschullehrerin und bio-dynamische Gärtnerin. Sie schreibt regelmässig für die Zeitschrift Das Blatt, die von der Initiative www.einestimme.ch herausgegeben wird. Der Artikel ist dort zuerst erschienen. Transition News durfte ihn mit freundlicher Genehmigung der Autorin veröffentlichen.